Foto: Blick von oben auf eine Menge von Reisenden, die mit ihrem Gepäck in einer langen Schlange stehen. Auf dem Bild eine kleine, farbige Grafik mit dem Schriftzug "war was?".

Ewig lange Wartezeiten, Chaos am Gepäckband, Anarchie in den Hallen - am Flughafen Frankfurt geht es drunter und drüber. "War was?" schreibt einen fast wahren Vor-Ort-Bericht von der Check-in-Schalter-Front.

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Chaos am Flughafen

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Hessen, das Bundesland, in dem immer was los ist. An dieser Stelle wirft unser Kolumnist Stephan Reich mit seiner Glosse "War was?" jeden Freitag einen ganz eigenen Blick auf die Nachricht der Woche. Nehmen Sie diesen Blick bitte auf keinen Fall ernst.

Ein mechanisches Geräusch durchschneidet die Stille, Gustav W., pensionierter Erdkundelehrer aus Griesheim, schreckt aus einem unbequemen Schlaf auf einer Bank auf, dann hebt er sich schwerfällig von seinem Platz, um zu gucken, ob es nun endlich so weit ist. An Gepäckausgabe E ist das Gepäckband angesprungen, Koffer aber kreisen keine darauf, W. wartet hier seit Tagen, ja Wochen, vielleicht Monate auf sein Gepäck.

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Portrait von Stephan Reich. Daneben steht "Glosse"

Stephan Reich
Redaktion hessenschau.de

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"Falscher Alarm", stöhnt er, als das Band wieder anhält. "Passiert hier ständig." Er wischt sich die Spinnweben von der Kleidung, Staub rieselt ihm aus dem Haar, als er zurück zu seinem Platz trottet, genauso wie hunderte weitere Reisende, die sich nach einer Ewigkeit des Wartens nur noch in Zeitlupe bewegen und dabei gequälte Stöhnlaute von sich geben.

Es ist eine Szene wie aus "The Walking Dead", Menschen, die geisterhaft durch die Ankunftshalle schlurfen, ausdruckslose Gesichter, von der Warterei zermürbt. "Helfen Sie mir", krächzt eine Vorbeischlurfende in zerschlissenem "I <3 Venedig"-Shirt, dann aber fallen ein paar Sonnenstrahlen durch die schmutzigen Scheiben, und sie verzieht sich fauchend in eine dunkle Ecke.

"Wir wissen gar nicht mehr, wohin wir wollten"

Es sind erschütternde Bilder, die aktuell vom Frankfurter Flughafen um die Welt gehen. Wegen Personalmangels werden zahllose Flüge gestrichen, jene, die doch fliegen, haben aberwitzige Verspätung. Die Service-Schalter sind heillos unterbesetzt, an den Check-in-Schaltern haben sich mittlerweile kilometerlange Schlangen gebildet. Das reinste Chaos.

Im hinteren Teil der Schlange an Gate 4 stehen Gabi und Hans S., ein Ehepaar aus Groß-Gerau. "Wir stehen hier schon so lange, wir wissen gar nicht mehr, wohin wir wollten", sagt Gabi, "ich glaube Kreta." "Nee, Los Angeles", wirft Hans ein. "Oder Marokko?" Verwirrung.

Gemeinsam mit anderen Reisenden aus ihrer Schlange haben sie sich mithilfe des Absperrbandes vom Check-in-Schalter einen kleinen Bereich abgesteckt. In der Mitte lodert ein wärmendes Lagerfeuer, ein verhinderter Spanien-Urlauber hat heute Wachdienst, dafür ist Ehepaar S. mit dem Kochen dran, Gabi erwärmt eine Tube Zahnpasta aus ihrem Kulturbeutel über einem Gaskocher.

"Es ist ein einfaches, aber auch schönes Leben", sagt sie. "Wir schlafen auf den Bänken oder den Gepäckaufgabebändern. Unsere Kleidung waschen wir im WC an Gate A20, das haben die verfeindeten Stämme von Gate 3 noch nicht entdeckt."

Friedensabkommen nach Snackautomaten-Kriegen

Die politische Lage sei zwar angespannt, es gebe immer mal wieder Gerüchte, dass Wartende von anderen Check-in-Schaltern die Schlange an Gate 4 stürmen könnten, um sich bessere Plätze zu sichern. Aber seit den großen Snackautomaten-Kriegen vor einigen Wochen hielten sich eigentlich alle an das Terminal-1-Friedensabkommen.

"Wir machen das Beste draus. Wenn wir nächste Woche immer noch warten, wollen wir in den Blumenkübeln Kartoffeln aussäen, um nächstes Jahr autark zu sein. Natürlich können wir uns vorstellen, hier sesshaft zu werden. Was bleibt uns auch anderes übrig?", sagt Gabi. Aber wie es weitergeht, weiß niemand wirklich. "Wir wollten eigentlich mit unseren Kindern in den Sommerurlaub", sagt eine andere Wartende aus der Gruppe. "Aber mittlerweile sind unsere Kinder erwachsen. Sollen wir jetzt überhaupt noch fliegen?"

"Es ist der reinste Dschungel da draußen"

So wie ihnen geht es vielen hier am Frankfurter Flughafen, es geht drunter und drüber. Es gibt Berichte von Wartenden, die so weit hinten in den gigantischen Schlangen standen, dass sie vom Schalter genauso weit entfernt waren wie von ihrem Urlaubsort, und sich schließlich zu Fuß auf den Weg machten. Zwischen dem Fundbüro und der Sky Lounge floriert ein riesiger Schwarzmarkt, auf dem illegal mit Nackenkissen und Schlafbrillen gedealt wird.

In der Transitzone an Flugsteig E dreht Tom Hanks gerade "Terminal 2". Und auch für das verbliebene Servicepersonal ist die Situation eine Belastung. "Es wird jeden Tag schwerer, unsere Position zu halten. Wir schlafen in Schichten. Wenn ich auf Toilette muss, verkleide ich mich selbst als wütende Urlauberin", sagt eine Angestellte vom ServicePoint aus Bereich B, die anonym bleiben will. "Ansonsten gerate ich zwischen die Fronten. Es ist der reinste Dschungel da draußen."

Weg ins Herz der Finsternis

Und sie hat recht. Je tiefer man sich in den Flughafen hineinwagt, desto wilder wird es. Ein Weg ins Herz der Finsternis, in Teilen von Terminal 2 herrscht mittlerweile blanke Anarchie. "Der gehört jetzt zur Hälfte einer Mallorca-Reisegruppe", sagt ein Hausmeister.

Es handele sich dabei um eine Gruppe junger Männer, die mit ihrem Fußballverein an den Ballermann hätten fliegen wollen. Durch die tagelange Wartezeit und die horrenden Bierpreise in der Flughafen-Gastro seien die Männer aber vollständig verroht. "Sie haben sich eine Festung aus Hartschalenkoffern errichtet", so der Hausmeister, der von Mad-Max-artigen Zuständen berichtet:

"Nachts fahren sie auf hochgerüsteten Gepäckwagen durch die Hallen und starten ihre Beutezüge, klauen Versorgungstrolleys aus dem Verladebereich oder passen Lieferungen für Burger King ab. Gestern haben sie den Duty-Free-Bereich eingenommen, jetzt haben sie genug Toblerone, um ihre Festung über Jahre verteidigen zu können."

Langfristiges Ziel der Gesetzlosen, heißt es gerüchteweise, soll die Erstürmung der Business Lounge sein, die aktuell noch von einer Gruppe Besserverdiener gehalten wird. "Dort gibt es Sessel mit Polstern", so der Hausmeister. "Und die letzte funktionierende Kaffeemaschine, heißt es." Terminal 2 stünden schwierige Zeiten bevor.

"Den einen Tag schaffe ich auch noch"

Von alldem bekommt Gustav W., der pensionierte Erdkundelehrer, in der Gepäckausgabehalle nicht viel mit. "Sehen Sie", sagt er mit Blick auf eine Uhr an der Wand, deren Zeiger sich rasend schnell gegen den Uhrzeigersinn dreht. "Ich warte schon so lange, dass die Zeit nun rückwärts läuft. Das heißt, dass mein Koffer bald kam, spätestens gestern wird er da sein."

In seinem Bart hat ein Vogel ein Nest gebaut, sein linker Unterarm ist mittlerweile mit der Lehne der Bank verwachsen, seine Trekkingsandalen haben im Linoleumboden Wurzeln geschlagen. "Den einen Tag schaffe ich auch noch. Ich wünschte nur, ich hätte ein Nackenkissen."

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