AfD-Fraktionschef im Landtag und AfD-Hessen-Sprecher Robert Lambrou.

Vor zehn Jahren wurde in Oberursel der Grundstein für die AfD gelegt. Heute ist die Partei in Hessens Politikbetrieb auf allen Ebenen aktiv - vor allem aber auch mit sich selbst beschäftigt.

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Zehn Jahre AfD in Hessen

hessenschau von 16:45 Uhr
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Es gibt eine Szene aus dem Landtag, die aus der Sicht des Marburger Erziehungswissenschaftlers Benno Hafeneger die hessische AfD zutreffend charakterisiert. Am 23. Mai 2019 begeht das Wiesbadener Parlament eine Feierstunde anlässlich des 70. Jahrestags des Grundgesetzes.

Der damalige Präsident des Staatsgerichtshofs Roman Poseck hält eine Rede, in der er die Verantwortung des Individuums für die Wahrung der in der Verfassung verankerten Werte betont.

"Völkisches Gedankengut und Rassismus greifen die Würde anderer Menschen an, indem sie Menschen ihren Wert und ihre Rechte absprechen. Es ist eine Verpflichtung aller, hiergegen deutlich und unter Hinweis auf die Vorgaben unserer Verfassung Position zu beziehen", erklärt Poseck.

Am Ende spenden ihm die Abgeordneten im weiten Rund des Landtags stehenden Applaus - zumindest die meisten. "Bei der AfD ist etwa ein Drittel der Fraktion sitzen geblieben", erinnert sich Benno Hafeneger, "ein Drittel hat kurz geklatscht, ein Drittel lange. Am längsten der Fraktionsvorsitzende Robert Lambrou."

Auf allen politischen Ebenen aktiv

Hafeneger forscht zu Rechtsextremismus und hat unter anderem die Arbeit der AfD-Landtagsfraktion über längere Zeit beobachtet und analysiert. Die unterschiedlichen Reaktionen auf die Poseck-Rede spiegeln aus seiner Sicht die Strömungen in der Hessen-AfD wider.

Auf der einen Seite ein rechter Rand, der sich anscheinend nicht mit den von Poseck beschworenen Verfassungswerten identifizieren kann. Auf der anderen Seite der bürgerliche Flügel, der sich auf dem Boden eben dieser Verfassung wähnt.

Zehn Jahre nach ihrer Gründung in einem Gemeindesaal in Oberursel (Hochtaunus) ist die AfD in Hessen auf allen Ebenen des politischen Betriebs angekommen. In den Stadtparlamenten und Kreistagen zählt sie eigenen Angaben zufolge 213 Mandatsträger in Hessen. Seit 2018 sitzt sie im Landtag - auch wenn die Fraktion mittlerweile auf 14 Abgeordnete geschrumpft ist.

"Die AfD ist die erfolgreichste Partei-Neugründung der letzten Jahrzehnte", resümiert Fraktionschef Lambrou im Gespräch mit dem hr, "das gilt es, gebührend zu feiern." Am 6. Februar soll es im Königsteiner Haus der Begegnung soweit sein. Doch bei weitem nicht allen im Lande ist nach Feiern zumute: Gewerkschaften, Sozialverbände und weitere zivilgesellschaftliche Akteure rufen zum Gegenprotest auf.

Die Grafik zeigt ein Säulendiagramm mit den Wahlergebnissen der AfD bei diversen Wahlen seit 2013.

Den Diskurs nach rechts verschärft

Zu jenen, die zum Protest aufrufen, gehört die Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte in Hessen (AGAH). Deren langjähriger Vorsitzender, Enis Gülegen, sieht in der AfD eine Partei, die den Nährboden für rassistische Gewalttaten legt. "Wenn wir in letzter Zeit immer mehr Anschläge, Morde und andere Erscheinungsformen der Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten erleben, dann fällt das ja nicht vom Himmel", sagt er.

Gülegen verweist auf das Grundsatzprogramm der Partei. Darin würden Ängste vor einer Überfremdung durch von der Politik geförderte Massenzuwanderung geschürt. Dem solle durch eine höhere Geburtenrate der "einheimischen Bevölkerung" entgegengewirkt werden. "Biologistischer kann man Rassismus eigentlich nicht begründen" sagt Gülegen.

Einen direkten Zusammenhang zwischen der Rhetorik der AfD und rassistischen Gewalttaten möchte Reiner Becker vom Demokratiezentrum Hessen nicht herstellen. Klar sei jedoch, dass die AfD auch in Hessen den "Diskurs nach rechts verschärft" und damit die Grenze des Sagbaren verschoben habe. Insgesamt sei die Hemmschwelle für rassistische und antisemitische Äußerungen in den vergangenen Jahren gesunken. Ob die AfD ein Symptom dieses Stimmungswandels ist oder Mitauslöser, sei schwer zu sagen.

Die Grafik zeigt die Mitgliederzahlen der AfD seit Gründung 2013 bis heute.

Mitarbeiter vom rechten Rand

Fest steht, dass die Partei in Teilen weiterhin Verbindungen ins rechtsextreme Milieu unterhält. Vorstandssprecher Andreas Lichert etwa, der lange dem neurechten "Verein für Staatspolitik" vorsaß und Kontakte zur rechtsextremen Identitären Bewegung unterhielt. Innerparteilich gehörte er bis zu seiner Auflösung dem "Flügel" an, der völkischen Fraktion der Partei.

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10 Jahre AfD - wo steht sie heute?

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Lichert ist indes nur das prominenteste Beispiel. 2019 berichtete der hr, dass der Landtagsabgeordnete Heiko Scholz mit Jens M. einen ehemaligen Regionalleiter der Identitären beschäftigte. Der hessische Bundestagsabgeordnete Jan Nolte wiederum sorgte für Aufsehen, als er mit Maximilian T. einen Mitarbeiter einstellte, gegen den zeitweise im Zusammenhang mit dem Fall Franco A. wegen Terrorverdachts ermittelt worden war.

"Der Blick auf die erste Reihe reicht oft nicht aus", betont Reiner Becker. Mitarbeiter und Referenten übernähmen teilweise eine "Scharnierfunktion" zum rechten Rand.

Im Vergleich "harmloser" Landesverband

Vom Verfassungsschutz wird die AfD in Hessen dennoch nicht beobachtet. Am mangelnden Willen der Behörde liegt das nicht. Im September 2022 hatte das Landesamt angekündigt, den Landesverband der AfD mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwachen zu wollen, weil es sich bei ihm um einen rechtsextremen Verdachtsfall handele. Das allerdings wurde ihr Mitte Oktober zunächst einmal gerichtlich untersagt. Die Jugendorganisation der Partei - die Junge Alternative - wird indes schon seit Längerem beobachtet.

Dennoch sieht Erziehungswissenschaftler Hafeneger die Hessen-AfD als eine "im Gesamtspektrum harmlose Partei". Eine aggressive Abgrenzung gegenüber den übrigen Parteien im Parlament und Freund-Feind-Markierungen, wie sie in anderen Landesverbänden üblich sind, seien bei der hessischen AfD deutlich weniger ausgeprägt. Die Parteiführung um Lambrou versuche sich eine "Anbiederungsperspektive" offen zu halten, um perspektivisch für CDU und FDP koalitionsfähig zu werden.

"Staatsmännische Attitüde nicht sonderlich ausgeprägt"

Im Landtag zeige sich das auch durch eine zunehmende Professionalisierung, so Hafeneger. "Rabaukentum" sei bei der Hessen-AfD eher selten zu beobachten.

Frank Lortz (CDU), dienstältester Abgeordneter und Vizepräsident des Landtags, äußert sich entsprechend gelassen über die AfD-Fraktion. Zwar seien seit ihrem Einzug die Debatten teilweise schärfer geworden, doch sei dies kein neues Phänomen im hessischen Landesparlament. "Als ich 1982 anfing, waren die Grünen gerade eingezogen, da ging es auch zur Sache." Allerdings sei bei den Abgeordneten der AfD die "staatsmännische Attitüde" nicht sonderlich ausgeprägt.

Überhaupt ist die hessische AfD seit ihrem Wahlerfolg 2018 anscheinend mindestens ebenso mit sich selbst beschäftigt wie mit der politischen Konkurrenz. Obwohl sie seinerzeit 19 Mandate errang, gehörten der Fraktion von Beginn an nur 18 Mitglieder an. Eine Abgeordnete wurde erst gar nicht in die Fraktion aufgenommen - weil sie in den sozialen Medien einen NS-Kriegsverbrecher verherrlicht haben soll.

Fraktion zerlegt sich selbst

Ein Parteiausschluss und drei weitere Austritte folgten - zuletzt verließ mit Claudia Papst-Dippel die einzig verbliebene Frau die Fraktion. Alle Renegaten begründeten ihre Austritte sowohl mit dem innerparteilichen Umgang als auch mit dem inhaltlichen Kurs der Partei. Im November war zudem die hessische Bundestagsabgeordnete Joana Cotar aus der Partei ausgeschieden. Sie nahm vor allem Anstoß an der russlandfreundlichen Haltung der Partei.

Robert Lambrou vermutet derweil hinter der jüngsten Austrittswelle weniger ideologische Grabenkämpfe als persönliche Enttäuschungen. Sowohl Papst-Dippel als auch die beiden zuvor ausgetretenen Fraktionsmitglieder Rainer Rahn und Walter Wissenbach seien bei der Vergabe der Listenplätze für die im Herbst anstehende Landtagswahl auf nicht sonderlich aussichtsreichen Plätzen gelandet. "Glaubwürdiger wäre es gewesen, wenn die drei vor der Aufstellungsversammlung ausgetreten gewesen wären."

Für Benno Hafeneger besteht das Dilemma der Hessen-AfD darin, dass sie darauf angewiesen ist, für die Mitte anschlussfähig zu bleiben, während sie gleichzeitig den rechten Rand des politischen Spektrums einbinden muss. Einstweilen scheint ihr das zu gelingen. "Zumindest in Sachen Wahlbereitschaft schreibt die AfD bislang eine Erfolgsgeschichte", so Hafeneger.

Anmerkung: In einer früheren Version hatten wir geschrieben, dass die Gründung der AfD-Bundespartei in einer Kirche in Oberursel erfolgte. Das ist so nicht zutreffend. Tatsächlich fand die Gründungsversammlung in einem Gemeindesaal statt. Zudem hatten wir von vier Austritten aus der Landtagsfraktion geschrieben. Einer der Abgeordneten ist jedoch von der Fraktion ausgeschlossen worden.

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