Untersuchungsausschuss im Landtag Antworten der Koalition auf Anschlag von Hanau reichen Angehörigen nicht

Am Samstag jährt sich der rassistische Anschlag von Hanau zum zweiten Mal. Im Landtag geht ein Untersuchungsausschuss der Frage nach, ob die Tat hätte verhindert werden können. Er dient auch der parteipolitischen Auseinandersetzung.
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Politische Aufarbeitung des Anschlags in Hanau

Es gebe ein paar gute und viele schlechte Tage, sagt Çetin Gültekin, zwei Jahre nachdem sein Bruder Gökhan bei dem rassistischen Anschlag von Hanau getötet worden ist. Neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss Tobias R. am 19. Februar 2020. Für Çetin Gültekin ist es trotz der Trauer "eine Herzensangelegenheit", weiter für Gerechtigkeit und Aufklärung zu kämpfen. Und für Antworten auf brennende Fragen.
Warum hat der polizeiliche Notruf in der Tatnacht nicht richtig funktioniert? Warum war am zweiten Tatort, der Arena-Bar im Stadtteil Kesselstadt, der Notausgang verschlossen? Was hat man im Vorhinein über den Täter gewusst?
Es sind Fragen wie diese, auf die außer den Angehörigen der Opfer auch die 15 Mitglieder des parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Landtag Antworten suchen. Viel Druck lastet auf ihnen, wie der Ausschussvorsitzende Marius Weiß (SPD) sagt: "Es gibt kein Strafverfahren mehr vor einem öffentlichen Gericht, das diese Funktion erfüllen könnte. Deshalb sind natürlich die Erwartungen umso höher an den Untersuchungsausschuss."
Ambivalentes Verhältnis zur AfD
SPD, Linke und FDP hatten auf den Ausschuss gedrängt. Die schwarz-grüne Regierungskoalition stimmte vergangenen Juli zu. Nur die AfD war dagegen. Sie fand, der Ausschuss werde für einen "Kampf gegen rechts" instrumentalisiert. Der Partei wurde nach dem rassistischen Attentat der Vorwurf gemacht, sie habe zu dem gesellschaftlichen Klima beigetragen, in dem sich Täter wie Tobias R. ermutigt fühlten.
Interessant: Nach Auffassung vieler Angehöriger sind es inzwischen neben den Linken-Obleuten gerade die AfD-Abgeordneten, die die richtigen Fragen wie die oben genannten stellen, um zur Aufklärung des Hanauer Attentats beizutragen. Oder eben detaillierter nachfragen. "Es gibt Stimmen aus Parteien wie CDU und Grüne, die versuchen, Dinge und Aussagen zu relativieren. Und es gibt Stimmen, die tiefer reingehen und versuchen zu verstehen, was hätte anders laufen müssen", sagt Newroz Duman. Sie engagiert sich mit der Initiative 19. Februar an der Seite der Angehörigen und hat alle Ausschusssitzungen auf der Besuchergalerie verfolgt.
Dabei ist Duman und anderen Zuhörerinnen und Zuhörern klar, dass es der AfD als Oppositionspartei auch darum geht, die Regierung für mögliche Versäumnisse vor der Tat und bei deren Aufklärung verantwortlich zu machen. Und dass umgekehrt CDU und Grüne Interesse daran haben, dass der eigene Innenminister und die Behörden in seinem Zuständigkeitsbereich, etwa die Polizei, möglichst unbeschädigt bleiben.
Çetin Gültekin hat selbst im Ausschuss ausgesagt. Er weiß, wie es sich anfühlt, befragt zu werden. Und auch wenn er die AfD positiv hervorhebt, sei er sich sicher, so sagt er, dass die Partei nur das Ziel habe, die schwarz-grüne Koalition in Bedrängnis zu bringen. "Die AfD geht momentan mit uns einen gemeinsamen Weg, bis sie erreicht haben, was sie wollen. Aber nicht wegen uns, sondern um mit uns Werbung zu machen", sagt Gültekin.
Verschlossener Notausgang
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Landtagsausschuss um Aufklärung des Hanauer Anschlags bemüht

Der Untersuchungsausschuss steht mit seiner Arbeit erst am Anfang. In den ersten vier Sitzungen durften die Angehörigen aussagen. Es hagelte Vorwürfe in Richtung der Behörden, vor allem wegen fehlender Informationen und mangelnder Empathie.
Said Etris Hashemi, der das Attentat schwer verletzt überlebte, aber seinen Bruder Nesar verloren hatte, legte zudem ein Sachverständigen-Gutachten vor. Das Ergebnis: Ohne verschlossenen Notausgang in der Arena-Bar hätten vermutlich mehr Menschen den Anschlag überlebt. Die Diskussion um das Gutachten wurde aber vom Ausschuss vertagt. Vorerst eine weitere Sackgasse auf der Suche nach Antworten.
CDU: Entlastung durch Sachverständigen
Anfang Februar sagte der erste und bisher einzige Sachverständige aus: Der Psychiater Henning Saß fertigte 2020 ein Gutachten zum Täter an. Demzufolge war Tobias R. schwer psychisch krank, hatte Wahnvorstellungen, litt unter Verfolgungswahn. Allerdings habe er seine Krankheit gut verbergen können.
Für CDU-Obmann Jörg Michael Müller ist das Gutachten vor allem eines: eine Entlastung der Sicherheitsbehörden. "Wenn der Gutachter auch auf mehrmaliges Nachfragen bekundet, dass es ausgesprochen schwer erkennbar war, dann ist der Vorwurf, dass man das sofort hätte erkennen müssen, an dieser Stelle aufgelöst", sagt Müller bestimmt.
Probleme mit Notruf anscheinend gelöst
Aus den Reihen der Opposition gibt es dennoch schon Rufe nach Konsequenzen. Beispielsweise wenn es darum geht, ob und wie psychisch kranke Menschen legal in den Besitz von Waffen kommen können. Oder wenn es um die Probleme mit dem polizeilichen Notruf in Hanau geht. Eines der Anschlagsopfer, Vili Viorel Păun, verfolgte den Attentäter am Abend des 19. Februar 2020 von der Innenstadt nach Kesselstadt und versuchte dabei erfolglos, die Polizei zu alarmieren.
Innenminister Peter Beuth (CDU) räumte vor einem Jahr technische und personelle Mängel in der Hanauer Notrufleitzentrale ein. Und er versprach, dass mit dem Umzug des Polizeipräsidiums Südosthessen in seine neue Dienststelle alle Notrufe im Zuständigkeitsbereich in einer zentralen Leitstelle erfasst würden.
Der Umzug ist inzwischen erfolgt. Nach Aussage des Landesvorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei, Jens Mohrherr, steht damit auch der Notruf. Damit könnte das Thema für den Untersuchungsausschuss eigentlich abgehakt sein.
Doch für die Linkspartei reicht das nicht aus. Sie fordert vom Innenminister ein Schuldeingeständnis. "Anstatt immer noch darauf zu beharren, dass die Polizei in dieser Nacht hervorragende Arbeit geleistet hat", sagt Linken-Obfrau Saadet Sönmez.
Eigentliche Arbeit beginnt erst
Das sehen Angehörige wie Çetin Gültekin ähnlich. Newroz Duman fürchtet außerdem, dass der Ausschuss vielleicht gar keine Konsequenzen haben könnte, falls niemand bereit sei, die Verantwortung zu übernehmen. Dann, so Duman, bleibe "Hanau nur ein Punkt auf der Liste rechten Terrors in Deutschland".
Noch ist aber genug Zeit für Antworten. Die eigentliche Arbeit des Ausschusses geht jetzt erst richtig los. Vor kurzem haben die Fraktionen von CDU, Grüne und FDP 16 neue Zeugen benannt. Es sollen unter anderem Mitarbeiter des Landeskriminalamts, des Verfassungsschutzes und der Verwaltungsbehörden gehört werden.