Analyse Der Untersuchungsausschuss zum Lübcke-Mord verläuft ernüchternd

13 Zeugen aus Sicherheitsbehörden und rechter Szene befragte der Landtagsausschuss zum Mord an Walter Lübcke bisher. Die Aufklärungsarbeit kommt nur zäh voran. Stattdessen gibt es wieder Streit.
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Freund des ermordeten Walter Lübcke enttäuscht von U-Ausschuss

Beamte von Polizei und Verfassungsschutz, die keinen allzu informierten Eindruck hinterlassen. Ein Neonazi, der eine bizarre Geschichte auftischt über den berüchtigten Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme. Und eine Stimmung unter den Abgeordneten, die nach konstruktivem Beginn doch wieder von parteipolitischen Scharmützeln geprägt ist.
So lässt sich der Stand der Dinge zusammenfassen im Untersuchungsausschuss des Landtags zum rechtsextrem motivierten Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU), sechs Monate nach dem Start der eigentlichen Aufklärungsarbeit.
Der Ausschuss soll untersuchen, ob und inwiefern die hessischen Sicherheitsbehörden vor dem tödlichen Anschlag am 1. Juni 2019 in Wolfhagen-Istha (Kreis Kassel) versagt haben. Ob sie es hätten besser wissen müssen, als sie den späteren Mörder Stephan Ernst fälschlicherweise als "abgekühlt" einstuften und vom Radar verloren - genauso wie seinen langjährigen Freund und Neonazi-Kameraden Markus H., der mit einem böswillig verkürzten Youtube-Video von einer Bürgerversammlung in Lohfelden eine rechte Hasswelle gegen den CDU-Politiker losgetreten hatte. Mithin: Ob Walter Lübcke noch leben könnte, wenn die Behörden wachsamer gewesen wären.
Kripo-Beamter wusste über Ernst quasi nichts
Nach fünf Sitzungen, in denen seit Ende Juni insgesamt 13 Zeuginnen und Zeugen befragt wurden, sind die Abgeordneten einer konkreten Antwort auf diese Fragen nur begrenzt näher gekommen. An Hinweisen, dass sich die Behörden jedenfalls in der Vergangenheit nicht gerade durch eine koordinierte und engagierte Auseinandersetzung mit der extremen Rechten hervortaten, mangelte es jedoch nicht.
Da war ein pensionierter Kripo-Beamter, der nach der Jahrtausendwende rund zehn Jahre lang beim polizeilichen Staatsschutz in Kassel für Rechtsextremismus zuständig war und der Stephan Ernst trotzdem nur als "nichtssagenden Mitläufer" kannte. Der Polizist hatte sich, wie er freimütig zugab, noch nicht einmal schlau gemacht, warum der Neonazi vor Jahren wegen des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion verurteilt worden war. Dabei hatte es sich immerhin um den versuchten Rohrbombenanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft im Taunus gehandelt. Um rechten Terror also.
Ein anderer Beamter, der einst die Außenstelle des Verfassungsschutzes in Kassel geleitet hatte, wusste über Ernst nur zu sagen, dass er ihm als "relativ frecher junger Mann" geschildert worden sei.
Umfelduntersuchungen nur in eigenen Datensätzen
Dann sagte in der vergangenen Woche ein Ermittlungsleiter des Bundeskriminalamts (BKA) aus, der nach Verbindungen zwischen dem Mord an Walter Lübcke und der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gesucht hatte. Der NSU hatte auch in Kassel gemordet, am 6. April 2006 wurde hier der Internetcafébetreiber Halit Yozgat von den Rechtsterroristen erschossen.
Zwar konnte der Beamte durchaus plausibel machen, warum es wohl keine direkten Verbindungen gibt. Doch was er über die Art und Weise berichtete, wie derartige Umfeldermittlungen geführt werden, konnte man durchaus ernüchternd finden: Im Wesentlichen, erklärte der BKA-Mann, habe man zusammengetragen, was sich über mögliche Bekannte von Stephan Ernst und Markus H. in polizeilichen Datenbanken finde. Was bedeutet: Gefunden werden konnte nur, was die Polizei bereits wusste.
"Verfassungsschutz glich einem Sauhaufen"
Schließlich war da, ebenfalls bei der Doppelsitzung in der vergangenen Woche, eine Verfassungsschützerin, nach deren Auftritt sich sogar der FDP-Abgeordnete Stefan Müller, Kraftausdrücken normalerweise eher abhold, zu sehr harschen Worten hinreißen ließ: "Leider hat sich der Eindruck verdichtet, dass das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz in der Vergangenheit in vielen Bereichen einem Sauhaufen glich."
Was die Beamtin dem Ausschuss im Einzelnen sagte, ist nicht bekannt, da sie in nicht-öffentlicher Sitzung befragt wurde. Doch was durchsickerte, passt ins bisher entstandene Bild: fehlendes Wissen über die rechte Szene in Nordhessen, Stephan Ernst und Markus H. eingeschlossen; mangelnder Informationsfluss nicht bloß zwischen den Behörden, sondern auch schon innerhalb des Landesamts für Verfassungsschutz selbst; Übernahme verantwortungsvoller Aufgaben wie das Führen von V-Leuten, Spitzeln aus der Szene, ohne jede Einarbeitung.
"Die Zeugin führte Quellen der nordhessischen Neonazi-Szene, ohne dass die Kolleginnen und Kollegen in Nordhessen oder andere Nachrichtendienste dies wussten", schrieb die Linksfraktion anschließend in einer Pressemitteilung - und handelte sich damit prompt den Vorwurf des Geheimnisverrats ein, vehement vorgebracht von CDU und AfD, die auf die Nicht-Öffentlichkeit der Vernehmung verwiesen.
Vieles erinnert an die Streitereien im NSU-Ausschuss
Es war bereits der zweite Akt eines Streits, der sich um diese Zeugin entzündet hatte und der ein Licht darauf wirft, wie sehr die Stimmung im Ausschuss nach der eher kooperativen Anfangszeit mittlerweile gekippt ist. Vieles erinnert jetzt wieder an die heftigen und nicht immer sachlichen Auseinandersetzungen, die sich Regierungs- und Oppositionsfraktionen, damals noch ohne die Rechtsaußen der AfD, im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss geliefert hatten. Sogar von gegenseitigem Anschreien hinter verschlossenen Türen ist die Rede.
Zuerst hatten sich CDU und Grüne den Vorwurf des Tabubruchs gefallen lassen müssen, weil sie die nicht-öffentliche Befragung der Verfassungsschutzmitarbeiterin mit den Stimmen der AfD durchgesetzt hatten. Auch das war aus einer geheimen Sitzung nach außen gedrungen.
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Eklat im Lübcke-Untersuchungsausschuss

Nun folgte der wütende Konter des "Geheimnisverrats". Dass es beim Ausschluss der Öffentlichkeit eigentlich nur darum gehen sollte, die Identität der Verfassungsschützerin geheim zu halten und eben nicht ihre Aussage, wurde dabei, dem parteipolitischen Schaukampf zuliebe, unterschlagen.
Bei Zeugen aus Behörden bohren CDU und Grüne weniger nach
Kritische Beobachter wie Michael Lacher, der als Freund der Familie Lübcke die Ausschusssitzungen besucht, oder die Kasseler Initiative Nachgefragt, die sich der Aufklärung über Rechtsextremismus in der Region verschrieben hat, haben den Regierungsfraktionen bereits fehlenden Aufklärungswillen unterstellt. CDU und Grünen weisen das weit von sich.
Dennoch fällt auf, dass ihre Ausschussmitglieder bei Zeuginnen und Zeugen aus den Sicherheitsbehörden weit weniger bohrend nachfragen, als wenn aktive oder ehemalige Mitglieder der rechten Szene auf dem Zeugenstuhl Platz nehmen müssen. Dreimal war letzteres bislang der Fall, öfter als ursprünglich geplant.
Die bizarre Geschichte von Temme und dem Landser-Bildchen ...
Für besondere Aufmerksamkeit sorgte dabei eine Geschichte, die ein langjähriger Wegbegleiter von Stephan Ernst und Markus H. in der vergangenen Woche zum Besten gab. Mike S., 40 Jahre alt und bis heute ein bekennender Neonazi, erzählte den staunenden Abgeordneten, wie er einmal das Bild eines Wehrmachtssoldaten an einen Mann verkauft habe, in dem er im Nachhinein Andreas Temme erkannt habe.
Jenen Mann also, der, damals noch in Diensten des Verfassungsschutzes, beim Kasseler NSU-Mord am Tatort gewesen war und sich hinterher nicht als Zeuge gemeldet hatte. Weil viel dafür spricht, dass Temme bis heute nicht die ganze Wahrheit verraten hat, elektrisiert sein Name die Abgeordneten nach wie vor - auch wenn es um ihn im Untersuchungsausschuss zum Lübcke-Mord allenfalls am Rande geht.
Mike S. hatte die bizarre Geschichte vom Ex-Verfassungsschützer und dem Landser-Bild schon 2019 in der rechtsextremen Zeitschrift Compact ausgebreitet. Dort kolorierte sie ein Verschwörungsszenario, das geheimdienstliche Verstrickungen in den Mord an Walter Lübcke nahelegen sollte.
... übernahm die SPD ohne jeden Zweifel
Schon das müsste Zweifel wecken. Hinzu kommen mannigfache Ungereimtheiten, von der unklaren Datierung der angeblichen Begegnung bis zur Frage, wie er Temme, den Mike S. bis dahin nur auf einem kleinen Bild in der Kasseler Tageszeitung HNA gesehen haben will, so sicher identifizieren konnte.
Gleichwohl nahmen etliche Ausschussmitglieder die Erzählung für bare Münze. "Ex-Verfassungsschützer kaufte Militaria in der rechtsextremen Szene", meldete etwa die SPD, ohne jeden Zweifel und im Indikativ.
Am 13. Januar trifft sich der Untersuchungsausschuss zu seiner ersten Sitzung im neuen Jahr. Mehr als 30 Zeuginnen und Zeugen sollen noch vernommen werden. Darunter sind Innenminister Peter Beuth sowie seine Amtsvorgänger Boris Rhein und Volker Bouffier (alle CDU), aber auch der Lübcke-Mörder Stephan Ernst und sein Gesinnungsgenosse Markus H. Im Sommer 2023 wird der Abschlussbericht erwartet.