2010 nahmen die Sicherheitsbehörden den späteren Lübcke-Mörder Stephan Ernst vom Radar. Dabei hatte ihn Ex-Verfassungsschutz-Chef Eisvogel kurz zuvor als "brandgefährlich" eingestuft. Vor dem U-Ausschuss beschrieb er desolate Zustände im Kampf gegen Rechts.

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Lübcke-Ausschuss befragt Ex-Verfassungsschutzchef

Ein Schild am hessischen Landesamt für Verfassungsschutz in Wiesbaden
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Als der Rechtsextremist Stephan Ernst vor fast genau drei Jahren den CDU-Politiker Walter Lübcke erschoss, hatten ihn die Sicherheitsbehörden schon ein Jahrzehnt lang aus den Augen verloren. Er galt als "abgekühlt", wie Innenminister Peter Beuth (CDU) hinterher sagte. Im Untersuchungsausschuss des Landtags zu dem politischen Mord machte Hessens Ex-Verfassungsschutz-Chef Alexander Eisvogel am Mittwoch deutlich: Die fatale Fehleinschätzung hat er nie geteilt.

Der Untersuchungsausschuss geht der Frage nach, ob der Mord zu verhindern gewesen wäre. Eisvogel war von 2006 bis Mitte April 2010 Hessens Verfassungsschutz-Präsident. Er kam nun als Zeuge, weil er 2009 in einem Lagebericht über die besonders starke nordhessische Neonazi-Szene eine berkenswerte Randnotiz hinterlassen hatte: Die Nennung Ernsts versah er mit dem rotgeschriebenen Kommentar: "brandgefährlich".

Seine Aussage im U-Ausschuss solle dazu dienen, dass die Sicherheitsbehörden ihre Arbeit verbessern, sagte Eisvogel. "Auch bis an die Schmerzgrenze" wolle er dabei gehen. Das sagte der 56-Jährige im Einzelnen:

These 1: Ernst war mehr als latent gefährlich

Angesichts der einschlägigen Vorstrafen sei man sich im Verfassungsschutz über die anhaltende Gefährlichkeit Ernsts einig gewesen. Ernst fiel seit seiner Jugend einschlägig auf, wurde auch verurteilt: Er hatte einen türkischen Imam niedergestochen, eine Asylunterkunft anzündet und noch 2009 mit 400 anderen Neonazis Teilnehmer eine DGB-Demo überfallen.

Mit einem weiteren Vermerk hat Eisvogel nach eigenen Angaben auch bekundet, dass ihm die Einordnung des späteren Lübcke-Mörders "als latent gewaltbereit" nicht weit genug gegangen sei. Der Anschlag auf eine Asylunterkunft hinterließ bei Eisvogel besonderen Eindruck. Ernst habe schon da jenen "Hass auf Ausländer" als Motiv genannt, der sich am Ende auch in der Ermordung Lübckes zeigte. Der CDU-Politiker war wegen der Unterstützung der deutschen Flüchtlingspolitik 2015 zum Feindbild der Rechten geworden.

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Als Islamismus-Experte gekommen

Alexander Eisvogel wurde im November 2006 Chef des Landesamtes für Verfassungschutz (LfV) in Wiesbaden. Er galt als Experte im Kampf gegen den Islamismus. Zuvor war der 56-Jährige Leiter der Abteilung "Islamistischer Terror" beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gewesen. Dorthin wechselte er 2010 als Vize-Präsident zurück. Seit 2013 ist Eisvogel Präsident der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung.

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These 2: Abgetaucht ist nicht abgekühlt

Ihm sei keine einzige Bemerkung des Verfassungsschutzes bekannt, dass Ernst abgekühlt gewesen sei, sagte Eisvogel. "Die Bewertung, er sei es, halte ich für gefährlich“, fügt er hinzu. Ohne professionelle Hilfe bleibe der bei Ernst zutage getretene tiefsitzende Hass in der Regel - "auch wenn jemand heiratet, Kinder hat und ein Haus baut". Der Lübcke-Mörder selbst sagte im Frankfurter Mordprozess, bei dem er zu lebenslanger Haft verurteilt wurde: Nach dem Angriff auf die DGB-Demo in Dortmund habe er sich von der rechten Szene abgewandt.

Ex-Verfassungschef Eisvogel ist ein anderes Szenario öfter begegnet, wie er im Landtag sagte. "Rechtsextremisten kühlen nicht so rasch ab." Typisch sei es vielmehr, strategisch abzutauchen - als "einsamer Wolf" im "führungslosen Widerstand, wie es in der Szene heißt". Wegen seiner Gefährlichkeit sei Ernst auch nicht für eine Anwerbung als Quelle für den Verfassungsschutz infrage gekommen.

These 3: Klischees führen zur Unterschätzung

Die Fehleinschätzung "abgekühlt" führte Eisvogel auf "klischeehafte Vorstellungen" und "Denkverbote" zurück, die aber spätestens 2011 mit der Aufdeckung der rechtsextremistischen Terrorgruppe NSU widerlegt worden seien. Rechtsextremisten ("betrunken und dumm") seien zu lange unterschätzt worden.

Er selbst habe zu Beginn seiner Amtstätigkeit beim hessischen Verfassungsschutz die Gefahr von Rechts falsch beurteilt, räumte Eisvogel ein. 2006 habe vor allem der islamistische Terror im Fokus gestanden. Ab 2007 sei ihm gerade in Nordhessen klar geworden, "dass sich da etwas zusammenbraut".

Die von ihm verlangte ungeschönte Bestandsaufnahme habe ergeben: Die Erkenntnisse über die Szene waren gering. Deshalb habe man nach einer Strategie für Anwerbungen gesucht und auf verstärkten Austausch mit der Polizei und den anderen Ämtern für Verfassungsschutz gesetzt.

These 4: Verfassungsschützer waren überfordert

Die Voraussetzung beim Kampf gegen Rechts waren laut Eisvogel äußerst schlecht. Statt wie heute 380 Mitarbeiter habe seine Behörde nur 180 Mitarbeiter gehabt. Sie seien hochmotiviert gewesen, aber es habe "massive Ausbildungs- und Fortbildungsdefizite" gegeben.

Ausgerechnet die wichtige Außenstelle Kassel war demnach "kein Ruhmesblatt". Auf Grund zu weniger Mitarbeiter seien flächendeckende Observierungen "auch nur einer Zielperson" eigentlich unmöglich gewesen.

Fachleute für Rechtsextremismus hätten dem Verfassungsschutz ebenso gefehlt wie Beamte im höheren Dienst, die auf ihre Führungsaufgaben vorbereitet waren. Eisvogel fasste das so zusammen: "Jeder Bäcker lernt sein Handwerk intensiver." Und das sei nicht respektlos gegenüber Bäckern gemeint.

Alexander Eisvogel im Jahr 2010 mit dem damaligen Innenminister Volker Bouffier

These 5: Überwachung war nicht so einfach

Nach dem "Brandgefährlich"-Kommentar geschah auch in der kurzen verbleibenden Zeit Eisvogels an der Spitze des Verfassungsschutzes nichts Konkretes im Fall Ernst, danach ohnehin nicht. Der Sicherheitsexperte gab zu bedenken: Der Verfassungssschutz sei nun mal weder Stasi noch Gestapo.

Nachrichtendienstliche Maßnahmen seien mangels konkreter Anhaltspunkte auf bevorstehende Straftaten nicht möglich gewesen, eine Observation Ernsts ohne umfangreiche Voraufklärung nicht in Betracht gekommen. Eine solche Untersuchung habe er eben anstoßen wollen.

Rhein und Beuth sagen noch aus

Politisch ist die Aussage vor allem für die CDU bedeutsam: Sie stellt seit 1999 die Innenminister. Zu Eisvogels Amtszeit war das Volker Bouffier, der vergangene Woche als Ministerpräsident verabschiedet wurde. Sein frischgewählter Nachfolger als Regierungschef, Boris Rhein, war unter dem Minister Bouffier ein Jahr lang Innen-Staatssekretär. Vom Sommer 2010 bis Anfang 2014 war er dann selbst Minister. Seitdem führt Peter Beuth das Ressort.

Für die oppositionelle SPD kündigte Fraktionschef und Ausschussobmann Günter Rudolph an: Als künftige Zeugen müssten sich Rhein und Beuth auf kritische Fragen im Untersuchungsausschuss gefasst machen. Was der frühere Verfassungssschutz-Präsident ausgesagt habe, sei ein Verriss seiner ehemaligen Behörde und "noch in der Rückschau erschreckend".

"Rhein holen jetzt seine eigenen Versäumnisse ein", sagte auch FDP-Obmann Stefan Müller. Die Linke will unter anderem thematisieren, dass Eisvogel mehrfach vergeblich Bouffier und Rhein um Unterstützung gebeten habe.

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