Psychiater im Untersuchungsausschuss Die "doppelte Buchführung" des Mörders von Hanau
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Psychiatrisches Gutachten über den Attentäter von Hanau

Schwerste Wahnvorstellungen, Tarnung im Alltag und eiskalt durchgezogener rassistischer Anschlag: Beim Täter von Hanau ging das laut einem Gutachter zusammen. Mit seinen Ausführungen entlastete der Experte im Landtag teilweise die Sicherheitsbehörden - erntete aber auch Widerspruch.
Knapp zwei Wochen noch, dann jährt sich das Attentat von Hanau zum zweiten Mal. Als der Hanau-Untersuchungsausschuss des Landtags Ende Dezember erstmals öffentlich tagte, hatten mehrere Tage lang die Angehörigen der neun Menschen mit Migrationshintergrund das Wort, die ein 43 Jahre alter Mann am 19. Februar 2020 in der Stadt erschoss. Nun schaute das Gremium auf den Täter und seine Motive.
Tobias R. nahm sich, nachdem er auch seine pflegebedürftige Mutter getötet hatte, in der Tatnacht selbst das Leben. Ein psychiatrisches Gutachten für die Bundesanwaltschaft kam zum Schluss: Der Mörder war psychisch krank, fühlte sich von Geheimdiensten und "der mächtigsten Organisation der Welt" verfolgt. Und er war ein rechtsextremer Rassist.
Gutachter war der Aachener Psychiater und emeritierte Professor Henning Saß. Der Experte trat am Montag in Wiesbaden in den Zeugenstand, um dem Ausschuss bei der Antwort auf zentrale Fragen nach möglichen Versäumnissen zu helfen, wegen denen er eingerichtet wurde. Manches wurde beantwortet, manches blieb offen. Und es gab auch Widerspruch.
"Enorm ausgeweitetes Wahnsystem"
Die eine Frage lautet: Was war den Behörden über die psychische Verfassung und extremistische Haltung des Mörders vor den Morden bekannt, und hätten diese durch rechtzeitiges Eingreifen nicht verhindert werden können? Und die andere: Wie politisch war die Tat und wer hat darauf eingewirkt: direkt durch rechte Einflüsse und dadurch, nicht genug gegen diese Tendenzen getan zu haben?
In der Befragung entlastete Saß mit seiner Aussage medizinisch, kriminalistisch oder politisch Verantwortliche zu einem nicht unerheblichen Teil vom Verdacht, wie ihn neben den Opferfamilien auch Oppositionsfraktionen haben: Dass die Tat zu verhindern gewesen sein könnte. Sein Tenor: Erst in der Retrospektive seien das "enorm ausgeweitete Wahnsystem" und der Rassismus wirklich offenkundig geworden, die in die extremistische Tat mündeten.
Das alles habe Tobias R. nämlich jahrelang überraschend gut verbergen können. Saß griff, um zu veranschaulichen, zum Vergleich mit der "doppelten Buchführung": Bis in die Tatnacht hinein sei der Mörder im Alltag und bei der lange vorbereiteten Tat erstaunlicherweise "operativ sehr leistungsfähig" gewesen, obwohl er in einer Wahnwelt lebte. "Die Puzzlesteine sind ja erst hinterher bekannt geworden." Alle möglichen Mitverantwortlichkeiten für die Morde waren damit aber nicht vom Tisch.
Terroristin und Modemacher
Saß ist ein erfahrener und renommierter Fachmann auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie, die sich mit Straftätern befasst. Er begutachtete den Angeklagten im Prozess um den Mord am Modemacher Rudolph Moshammer und später Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte im NSU-Prozess. In dem Gutachten bewertete er Zschäpe als voll schuldfähig. Wie im Fall des Hanau-Mörders musste er sich auch da schon rein auf Akten stützen.
Und so sagte Saß mehr als einmal im Landtag vor dem Untersuchungsausschuss: "Das ist Spekulation." Oder "Das sind die Dinge, die sich in seinem Kopf abgespielt haben. Da haben wir keinen Zugang.“ In seiner Diagnose ist sich der Psychiater aber sicher: Der Mörder habe die vergangenen 20 Jahre unter einer schweren paranoiden Schizophrenie" gelitten, seine Weltsicht sei "aufs Schwerste krankhaft verformt" gewesen. In einem Prozess wäre der Täter deshalb laut Gutachter "aller Wahrscheinlichkeit nach nicht schuldfähig gewesen".
Vater drängte auf Entlassung
Zu Beginn seines BWL-Studiums haben sich bei dem späteren Attentäter ("Einsamer Wolf") bereits 2001 erstmals öffentlich Krankheitsanzeichen gezeigt: In der Zeit einer unerwiderten Liebe zu einer Kommilitonin kam er wegen einer Psychose in eine Bayreuther Klinik. Dass er trotz des Verdachts auf Schizophrenie nach nur kurzer Zeit entlassen wurde, geschah auf das Betreiben seines Vaters – "leider", wie Saß sagte.
Der Klinik könne man keinen Vorwurf machen, die von einer möglicherweise nur unter Stress ausgelösten, vorübergehenden Erscheinung ausgegangen war. Verständnis zeigte der Gutachter auch mit Hanauer Ermittlern, als dort 2019 eine wirre, von Verfolgungswahn geprägte Strafanzeige von Tobias R. landete – nach 14 Jahren, in denen er mit seiner Krankheit nicht aufgefallen sei. Im Nachhinein erkenne man die in der Anzeige zum Ausdruck kommende Gefährlichkeit klarer, "als wenn sie einem frisch auf den Tisch kommt".
Aus Prinzip keine Döner
Widerspruch erhielt der Psychiater, als es um die politische Einstellung des Mörders ging. Nach Ansicht von Saß war Tobias R. als Kind im Elternhaus durch nationalkonservatives Denken vorgeprägt. Später sei er wegen rechter Äußerungen "ein bisschen" aufgefallen und noch nicht extrem gewesen. Demnach aß Tobias R. zwar aus Prinzip keine Döner, weil er ausländerfeindlich war. Er bestellte Kriegs- und Naziliteratur und hörte Rechtsrock. Durchgeschlagen hätte ein ausgeprägter Rechtsextremismus aber erst um 2019, als er in hasserfüllten Videobotschaften mit Völkermord-Fantasien und letztlich den rassistischen Morden kulminierte – "planvoll, kaltblütig, rücksichtslos".
Energisch intervenierte der Grünen-Abgeordnete Taylan Burcu: Ob der Gutachter die vor 2019 belegten Aktivitäten und Haltungen tatsächlich für lediglich "ein bisschen" rassistisch halte? Das sei doch sehr massiv gewesen. Saß präzisierte: Das sei schon eindeutig rassistisch gewesen, im Jahr vor den Morden sei die Intensität aber noch einmal deutlich gestiegen.
Ein Thema kam auch zur Sprache: Neigte Tobias R. der AfD zu, aber sie war ihm nicht rechts genug? Zu dieser Darstellung in seinem Vortrag sagte der Gutachter später auf Nachfrage von Fraktionschef Robert Lambrou: Das habe laut Akten ein Arbeitskollege vermutet, gesichert könne er darüber nichts sagen.
"Geschieht ja nicht isoliert"
Auf Nachfragen der Linken-Abgeordneten Saadet Sönmez deutete der Psychiater mit einem allgemeinen Befund auch an, dass es Versäumnisse hinsichtlich des legalen Waffenbesitzes des Täters gegeben haben könnte. Besonders bei Wahnvorstellungen gelte: "Waffenbesitz und psychische Erkrankung ist schon eine brisante Mischung."
Sönmez fragte auch, ob die damals von rechter und konservativer Seite geführte Debatte über Kriminalität im Zusammenhang mit Migration und Shisha-Bars ein politisch-gesellschaftlicher Nährboden für die Morde gewesen sein könnte? Der Psychiater bejahte: "Zweifellos, so etwa geschieht ja nicht isoliert." Er fügte später aber hinzu: Dass sich in der Tat die Politik einer Partei niederschlage, sei für ihn nicht zu erkennen.
Hintergrund: Schon direkt nach der Tat sah sich vor allem die AfD mit dem Vorwurf konfrontiert, ein Klima mitgeschaffen zu haben, dass zu der Tat führte. Das wiesen Bundes- und Landespartei zurück und bezeichneten die psychische Erkrankung als "handlungsweisend". Der frühere Landtags-Spitzenkandidat Rainer Rahn sagte kurz nach den Morden in einem Interview mit der FAZ: "Shisha-Bars sind Orte, die vielen missfallen, mir übrigens auch." Wenn jemand permanent von so einer Einrichtung gestört werde, "könnte das irgendwie auch zu einer solchen Tat beitragen." Die Partei distanzierte sich davon.
Mehr als 20 weitere Zeugen
Im Hanau-Untersuchungsausschuss sollen nach gemeinsamen Anträgen von CDU, Grünen und FDP einerseits sowie von SPD und Linkspartei andererseits mehr als 20 Zeugen vernommen werden: unter anderem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, des Bundes- und des Landeskriminalamtes, der Staatsanwaltschaft, der Polizei sowie von kommunalen Verwaltungen. Sie sollen Auskunft darüber geben, welche Informationen über Tobias R. Landesregierung und Behörden wann vorlagen - und was damit geschah.
Ende der weiteren InformationenHinweis: Die Passage über die politische Einstellung des Attentäters wurde zur Klarstellung um die nachträgliche Äußerung des Gutachters ergänzt, dass über eine parteipolitische Anhängerschaft nichts gesichert gesagt werden könne.