Vaska Zladeva vor dem Landtag mit einem Bild ihres ermordeten Cousins

Im Hanau-Ausschuss des Landtags haben jetzt die Opferfamilien der rassistischen Morde von Hanau das Wort. Wie Vaska Zladeva begnügen sie sich nicht mit der Rolle der Befragten. Sie fordern Wahrheit, Gerechtigkeit - und die Bestrafung von Verantwortlichen.

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Hanau-Untersuchungsausschuss tagt

hessenschau vom 03.12.2021
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Es mag ihr seltsam vorkommen. Aber Vaska Zladeva nimmt es äußerlich unbewegt hin. Über ganz andere Zumutungen, die sie seit dem 19. Februar 2020 schon getroffen haben, will sie ja gleich reden – und das hier ist aus formalen Gründen wohl unvermeidlich.

Also lässt sie die Dolmetscherin, die an diesem Freitag im Plenarsaal des Landtags in Wiesbaden neben ihr sitzt, aus dem Bulgarischen übersetzen: Gewiss, sie hat die Belehrung über ihre Rechte und Pflichten verstanden und auch, dass sie sich nicht selbst belasten muss.

"Er war ein guter Mensch"

Erste Zeugenbefragung in der ersten öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses, der seit Juli die neun Morde von Hanau untersucht. Ein 43 Jahre alter Mann, psychisch krank und Rassist, hatte sie am 19. Februar des vergangenen Jahres begangen, bevor er seine Mutter und sich selbst tötete. Womit könnte sich Vaska Zladeva da selbst belasten? Sie ist als erste von drei Angehörigen an diesem Tag hier im Parlament, weil einer der Getöteten ihr Cousin Kaloyan Velkov war.

Beide kamen aus Bulgarien hierher, sie seien wie Geschwister gewesen. Es plagt die Cousine, dass sie ihn dazu bewegte, wie sie der Arbeit wegen nach Deutschland zu kommen. "Er war ein guter Mensch."

Quälende Fragen

"Leg Dich jetzt hin, Schwester. Du musst morgen früh aufstehen" – das war das Letzte, was die 36-Jährige aus Erlensee (Main-Kinzig) von Velkov hörte. Als Vaska Zladeva den Abgeordneten von dem Telefonat am Abend des Mordes berichtet, hat sie sich schon entschieden. Der Vorsitzende Marius Weiß (SPD) hat ihr schließlich die Wahl gelassen: Nein, sie will nicht in der Rolle der Befragten beginnen.

Also berichtet diese Frau leise, aber bestimmt, was ihr wichtig ist. Sie hat das Aufgeschriebene vor sich liegen. Und sie stellt erst einmal selbst die Fragen. Solche Fragen quälen alle Hinterbliebenen. Und der Ausschuss wird sich wohl noch monatelang mit ihnen befassen.

Was ist passiert, wie konnte es passieren?

Als sie in der Nacht aufgeschreckt zum Tatort fuhr und dort die weinenden und schreienden Menschen sah, dachte Vaska Zladeva: "Mein Gott, was ist hier passiert?" Inzwischen lautet die wesentliche Frage: Wie konnte das passieren? Warum der Täter nicht vorher aufgefallen sei, will die Zeugin wissen. Wo er doch Tage vor dem Anschlag sein paranoides rechtsextremes Manifest mit den Vernichtungsplänen online gestellt hatte. Warum durfte er legal Waffen haben?

Viele weitere Warums folgen: Warum ihr niedergeschossener Cousin erst nach rund einer halben Stunde am Tatort in der Bar "La Votre" entdeckt wurde. Warum die Angehörigen in der Mordnacht stundenlang vor diesem Tatort und in einer Halle warten mussten, bevor ihnen die Namen der Toten verlesen wurden. Warum Velkovs Leiche ohne Wissen der Familie obduziert worden sei. Warum Mutter und Cousine erst sechs Tage nach dem Mord die Leiche sehen durften. Und warum man mit dem Schrecken und seinen Folgen viel zu sehr allein gelassen worden sei.

Vertrauen verloren

"Es sind viele Fragen und wenig Antworten", sagt Zladeva. Die Feststellung trifft sie, die höflich im Ton sind, aber wuchtig im Inhalt. "Ich habe das Vertrauen in die Polizei verloren."

Ob den Einsatzkräften und Sicherheitsbehörden tatsächlich gravierende Fehler unterliefen – vor, während und nach der Tat – soll der Ausschuss ergründen, den die Oppositionsparteien SPD, FDP und Linke initiiert haben. In zehn Fragen dreht es sich auch um die politische Verantwortung. Die Staatsanwaltschaft hat ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen eines nicht geöffneten Notausgangs eingestellt, ein weiteres gegen die eingesetzten Polizisten erst gar nicht eröffnet.

Keiner will den Ton verfehlen

"Es tut uns unendlich leid", versichert CDU-Ausschussobmann Jörg-Michael Müller als erster Politiker der Zeugin Zladeva nach ihrem Bericht. Er meint die Tat. Fragen stellt er erst einmal gar nicht. Keiner der anderen Fraktionssprecher, der nicht wie Müller tiefe Anteilnahme und Respekt bekundet hätte.

Den Angehörigen vor allem zuzuhören: Das war einvernehmlich als "wichtiges Zeichen" und Grundlage der Ausschussarbeit gedacht, wie Grünen-Obfrau Vanessa Gronemann sagt. Also stehen die Aussagen am Beginn der öffentlichen Erörterung und das noch in drei weiteren Sitzungen. Doch wie sind die vielen schmerzlichen Wahrnehmungen am Ende zu bewerten und zu gewichten?

Im Umgang mit den Familien mag niemand den gebotenen Ton verfehlen. Und alle beteuern den Willen zur Aufklärung - die CDU auch unter Berufung auf ein Versprechen von Ministerpräsidnet Volker Bouffier. Die unterschiedlichen Standpunkte sind aber längst offenkundig. Schließlich will die schwarz-grüne Koalition, vor allem die Union, ihren Innenminister Peter Beuth vor der empörten Kritik der Angehörigen schützen. Zumal diese Kritik von der Opposition aufgegriffen wird, um Beuth Versagen nachzuweisen.

Mahnwache vorm Landtag

Zeuge klagt AfD an

Nach der ersten Anhörung schlussfolgert die Linken-Abgeordnete Saadet Sönmez dann auch: Ein eklatanter Mangel an Notfallseelsorge mache deutlich, wie "ignorant" die hessischen Behörden mit den Angehörigen verfahren seien. "Einen besseren Umgang von Vertretern des Staates mit Angehörigen von Opfern" fordert auch Ex-Justizminister Jörg-Uwe Hahn (FDP). Und SPD-Obfrau Heike Hofmann formuliert als Aufgabe des Ausschusses, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen.

Es ist auch kein Zufall, dass der AfD-Abgeordnete Dirk Gaw den Dank für die "bewegende Aussage" Zladevas mit der Zusicherung verbindet, auch seine Fraktion treibe die Frage "nach dem legalen Waffenbesitz eines psychisch Kranken" um. Die Partei bestreitet, dass der Täter überhaupt ein politisches Motiv hatte.

Ihre Kritiker brachten den Anschlag seinerzeit rasch mit einer rassistischen Stimmung in Verbindung, die von der AfD geschürt worden sei. Später wird sich Hayrettin Saraçoğlu, dessen Bruder Fatih in Hanau ermordet wurde, deshalb aus dem Zeugenstand des Ausschusses heraus direkt an die AfD-Abgeordneten wenden. "Sie haben monatelang schlecht über Shisha-Bars gesprochen. Die wurden zur Zielscheibe gemacht." Nun habe er seinen geliebten Bruder verloren, und seine Existenz sei zerstört.

Wahrheit, Gerechtigkeit, Konsequenzen

Ihr unverarbeitetes Trauma schildert auch Diana Sokoli, die Partnerin von Fatih Saraçoglu. Im Gegenteil: Mit der Klarheit über das Vorgefallene wuchs der Schmerz nur noch. Sie macht deutlich: Nach dem Anschlag hätte sie sich eine bessere, koordinierte Betreuung gewünscht.

Weitere Angehörige, die nicht nur Befragte sein wollen: Auch die nächsten drei Sitzungen wird der Hanau-Ausschuss ihnen widmen. Der verschlossene Notausgang an einem der Tatorte, der technisch veraltete 110-Notruf, die medizinische Hilfe für Opfer, der Umgang mit ihren Familien - das werden zentrale Fragen sein.

Elf Menschen sollen am Ende angehört worden sein. Was sie bei allen Unterschieden bewegt, hat die erste Zeugin im Untersuchungsausschuss unmissverständlich hinterlegt. Nicht nur, dass es um Gerechtigkeit und Wahrheit gehe, sagte Vaska Zladeva. Sie sagte auch, verantwortlichen Personen sollten endlich auch die Verantwortung übernehmen. "Alle, die Fehler begangen haben, müssen bestraft werden."

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