Emiş Gürbüz schneidet in Wiesbaden eine Torte an, um an ihren in Hanau ermordeten Sohn Sedat zu erinnern

Den Attentäter von Hanau hatte auch Hessens Verfassungsschutz nicht auf dem Radar. Ein Ärgernis, aber nachvollziehbar, sagt Behördenchef Schäfer vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags. Das sehen nicht alle so.

Videobeitrag

Video

Verfassungsschutz-Präsident im U-Ausschuss

hs16_160522
Ende des Videobeitrags

Es ist nun schon das 16. Mal, dass der Hanau-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags zusammentritt. Auch Emiş Gürbüz ist wieder in Wiesbaden. Diesmal nicht, um wie zum Auftakt im Dezember als Zeugin ihr Leid zu schildern und schwerwiegende Vorwürfe zu erheben.

An einem Tisch, behängt mit Schwarz-Weiß-Porträts eines jungen Mannes, schneidet die Frau am Montag in gebotener Entfernung zum Landtagsgebäude eine Torte an. Rot wie der Belag ist die Schrift des Plakats. Darauf steht: "Wenn Sedat noch leben würde, wäre er heute 32 Jahre alt geworden."

Nie auf dem Schirm

Wäre, hätte, könnte: Im Ausschuss stellte sich an diesem Tag Robert Schäfer, Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), den Konjunktiven. Könnten Emiş Gürbüz Sohn und die acht anderen Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau noch leben, wenn die Sicherheitsbehörden vorher und am 19. Februar 2020 bessere Arbeit geleistet hätten?

Falls Emiş Gürbüz überhaupt noch auf das Eingeständnis von Fehlern gehofft hat: Vom Verfassungsschutz-Chef kam es nicht. Schäfer bestätigte vor den Abgeordneten frühere Angaben: Das Landesamt hatte den 46-Jährigen nie auf dem Schirm, der in seiner Heimatstadt gezielt Menschen mit Migrationshintergrund als Opfer auswählte, bevor er auch seine Mutter und sich selbst erschoss.

"Ich habe die Rückmeldung bekommen, dass wir zu dem Täter keinerlei Erkenntnisse haben" – an diesem Stand vom Tag der Tat hat sich laut Schäfer nichts geändert. Einen Abschlussbericht des Verfassungsschutzes zu dem Attentat sollte nach seinen Angaben in wenigen Wochen vorliegen. Auch die anderen Verfassungsschutzämter in Deutschland waren demnach ahnungslos.

LfV-Präsident: "Eher im Verborgenen"

Ein Versäumnis kann Schäfer nicht erkennen. Dass man jemanden wie den Attentäter von Hanau nicht bemerke, sei "immer ein Ärgernis", befand der LfV-Präsident. Überraschend sei es aber nicht, nach Aktenlage sogar nachvollziehbar. Denn der Täter habe "eher im Verborgenen" gearbeitet und ohne Anbindung an eine Gruppe anderer Extremisten. Experten sprechen vom "Einsamen Wolf", der Sicherheitsbehörden ratlos mache.

Gelegenheiten, auf ihn aufmerksam zu werden, hätten nach Meinung der Kritiker Verfassungsschutz und polizeilicher Staatsschutz aber sehr wohl gehabt. Der Täter war wiederholt mit paranoid-schizophrenen Schüben aufgefallen. Er hatte 2004 eine verwirrte Anzeige erstattet – ausgerechnet, weil er sich von Geheimdiensten beobachtet wähnte, die das besser getan hätten, wie man nun weiß.

Als er das 2019 noch einmal gegenüber der Polizei wiederholte, sei nicht sorgfältig genug ermittelt worden, kritisierte die SPD-Obfrau Heike Hofmann nach der Aussage eines inzwischen pensionierten Staatsschutz-Kommissars. Der politische Fehler dahinter laut SPD: Personalabbau, der zu chronischer Überlastung der Polizei führe.

FDP: Internet-Monitoring muss besser werden

Mit kruden völkischen Vernichtungsfantasien war der Hanauer Mörder außerdem kurz vor dem Anschlag an die Öffentlichkeit gegangen: im Internet. Sein Manifest enthielt auch nach Meinung des Verfassungsschutzpräsidenten "eindeutige Merkmale des Rechtsextremismus". Seine Wissenschaftler wollten sich aber auf ein "geschlossenes rechtsextremes Weltbild" nicht festlegen.

Dass kein Sicherheitsbeamter auf diese Online-Botschaften stieß, ist laut Michael Müller von der CDU-Regierungsfraktion kein Versäumnis: Die Seite sei bis zur Tat lediglich sechs Tage online gewesen, der psychisch schwerkranke Mann habe sich völlig isoliert. Wenn Internetrecherchen zudem nicht an konkreten Personen oder Sachverhalten ausgerichtet sind, wird es laut Verfassungsschutz-Chef Schäfer mit dem Scannen des Internets "natürlich kompliziert".

Der FDP-Abgeordnete Jörg-Uwe Hahn befand dennoch: Der Verfassungsschutz müsse Lehren aus dem Anschlag ziehen. "Das Internet-Monitoring muss besser werden." Welche technischen Mittel zum Filtern und Scannen die Verfassungsschützer verwenden, wollte Präsident Schäfer nur hinter verschlossenen Türen sagen. Das galt auch für Fragen nach dem Vater des Mörders. Denn auch der sei mit rechter Gesinnung in Erscheinung getreten, wie die Linke betonte.

Waren die Verfassungsschützer intelligent genug?

Im geheimen Teil seiner Befragung wird Hessens oberster Verfassungsschützer kaum Fehler bekannt haben. Schließlich hatte er zuvor die Frage nach etwaigen Konsequenzen in seiner Behörde nach dem Attentat von Hanau einzig mit dem allgemeinen Hinweis beantwortet: Solche Checks seien Routine. "Sind wir intelligent vorgegangen? Was hätten wir besser machen können?" Das frage man selbstverständlich nach so einem Geschehen.

Es sind diese Fragen, die Emiş Gürbüz quälen, weil sie ihre grundsätzliche Antwort gefunden hat. Am Montag verteilte sie an ihrem Stand in Wiesbaden die Geburtstagstorte für ihren toten Sohn Sedat an andere Hinterbliebene und Mitglieder der "Initiative 19. Februar". "Ihr seid doch jetzt meine Familie", sagte sie.

Weitere Informationen Ende der weiteren Informationen