Am NPD-Wahlslogan "Migration tötet" fand ein Richter aus Gießen nichts auszusetzen, im Gegenteil. Die SPD im Landtag will, dass dem Mann das juristische Handwerk gelegt wird. Hinter der Initiative wittert die CDU eine PR-Aktion - und Schlimmeres.

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SPD will Absetzung eines Gießener Verwaltungsrichters

Zitat aus Gießener NPD-Urteil und Wahlplakat
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Gut zweieinhalb Jahre ist es her, dass ein Gießener Verwaltungsrichter mit der Billigung eines Wahlplakates der NPD in den begründeten Verdacht geriet, selbst ein Rassist zu sein. Der juristische Streit über das Urteil, das bundesweit Schlagzeilen machte, ist noch immer am Hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) anhängig. Der politische Streit über den Umgang mit demjenigen, der es fällte, hat im Landtag gerade erst begonnen.

Als sich das Parlament am Mittwoch mit der Sache befasste, wurde es gleich heftig. Die Frage: Muss sich der Landtag einmischen? Oder tangiert das zu sehr die Unabhängigkeit der Gerichte, ist es ohnehin aussichtslos? Zwei Juristen, drei Meinungen – so weit wie in der Redewendung ging der Dissens in der Debatte nicht. Aber sechs Fraktionen, fünf Meinungen: Das ist selbst im Hessischen Landtag bemerkenswert.

"Das dürfen wir nicht hinnehmen"

Die SPD will erreichen, dass der Mann nicht weiter einen Rechtsstaat vertritt, dessen verfassungsrechtliche Grundwerte er offenkundig nicht achte. "Das ist ungeheuerlich. Das dürfen wir nicht hinnehmen", sagte Gerald Kummer, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion. Die Wehrhaftigkeit der Demokratie zu sichern – um nichts weniger gehe es. Und nicht nur in diesem Fall. Kummer verwies auf Sachsen. Dort darf der vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist eingestufte Ex-Bundestagsabgeordnete Jens Maier (AfD) wieder als Richter arbeiten.

Der Gießener Verwaltungsrichter hatte 2019 vor der Europawahl der NPD in einem Streit mit der Wetterau-Gemeinde Ranstadt beigepflichtet. Seiner Auffassung nach hatte die SPD-Bürgermeisterin zu Unrecht Wahlplakate mit dem Slogan "Migration tötet" abhängen lassen. In der Urteilsbegründung hat er "auf 20 Seiten faschistische Parolen gekloppt", wie es die Neue Richtervereinigung seinerzeit gegenüber dem hr bewertete.

Salafismus und Untergang von Rom

Dass "Migration tötet" und eine Gefahr für die deutsche Kultur sei, hielt der Richter für eine beweisbare Tatsache und nicht für volksverhetzend. Migration könne "tatsächlich Tod und Verderben" bringen, im Übermaß könne sie "zum Tod der deutschen Kultur" führen. Um das alles argumentativ zu stützen, ließ er ausführliche Hinweise auf Salafismus, die Kölner Silvesternacht und sogar den Untergang des Römischen Reichs folgen. Und tatsächlich habe ja auch Deutschland 2015 eine regelrechte "Invasion" erlebt.

In einem späteren Verfahren wegen Befangenheit in einer Asylsache kam dann auch das Bundesverfassungsgericht zum Schluss: Dem NPD-Urteil von 2019 stehe "gleichsam auf die Stirn geschrieben, dass der Richter, der es abgefasst hat, Migration für ein grundlegendes, die Zukunft unseres Gemeinwesens bedrohendes Übel hält".

Verfassungsrichter müssten entscheiden

Geht es nach der SPD, stößt der Landtag Gespräche mit dem Richterwahlausschuss an, um nach Artikel 127 der hessischen Verfassung eine formelle Richteranklage beim Bundesverfassungsgericht zu erreichen. Dort würde im Falle einer Zulassung entschieden, ob der Gießener Richter mangels Verfassungstreue versetzt, entlassen oder in Pension geschickt werden sollte.

Der Streit darüber wird erst einmal im Rechtsausschuss des Landtags weitergeführt, eine Einigung wird es kaum geben. Denn an der Seite der SPD steht einzig die Linkspartei. "Was muss denn noch geschehen, um zu erkennen, dass solche Menschen unsere Demokratie kaputtmachen“, sagte ihr Abgeordneter Ulrich Wilken.

Am weitesten ging die AfD auf Distanz. Vom Wunsch nach Gesinnungsjustiz sprach ihr Abgeordneter Gerhard Schenk. "Das Urteil teilt sicher nicht ihre ideologisch verblendete Willkommenskultur", rief er den Initiatoren zu. Als "PR-Aktion und Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz" lehnte auch die CDU den Vorstoß kategorisch ab. Ihr rechtspolitischer Sprecher Christian Heinz nannte die Begründung des NPD-Urteils zwar "hanebüchen". Angesichts der hohen rechtlichen Hürden ("dünnes Eis") und des zeitlichen Abstands zwischen dem Urteil und der Initiative zur Richteranklage sei aber ein Scheitern nicht unwahrscheinlich. Das werde dann auch noch "Jubel von Rechtsaußen" auslösen.

Eklat wegen Polen-Vergleich

Wegen eines auf Twitter abgesetzten Kommentars des CDU-Abgeordneten Michael Müller eskalierte der Streit. Darin hatte der Politiker die Initiative der oppositionellen SPD mit den Eingriffen der nationalkonservativen polnische Regierung in die Unabhängigkeit der Justiz verglichen. SPD-Fraktionschef Günter Rudolph war außer sich, sprach von einem "schäbigen Angriff auf die Sozialdemokratie" und verlangte - vergeblich - eine Entschuldigung.

Die #SPDHessen greift in Hessen zum Mittel der Richteranklage um einen Richter der eine kritikwürdige Entscheidung getroffen hat „politisch“ aus dem Amt zu hebeln. Polen lässt grüßen. Demokratie ist nur, wenn es ins eigene Bild passt. Meine Güte wo sind wir gelandet.

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Die Grünen wollten sich dem Koalitionspartner CDU nicht uneingeschränkt anschließen. Hildegard Förster-Heldmann schlug vielmehr vor: Da es sich um eine "ausgesprochene delikate Angelegenheit" im Spannungsfeld von Demokratie und richterlicher Unabhängigkeit handele, solle der Landtag mit Bedacht vorgehen und eine Expertenkommission einrichten.

"Es ist nicht Aufgabe der Abgeordneten, Urteile zu bewerten und Richterschelte zu betreiben", befand Marion Schardt-Sauer (FDP), die auch von einer Kommission nichts hält. Sie sieht laut Verfassung allein Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) als oberste Dienstherrin der Richters in der Pflicht. Ihr warf sie Untätigkeit vor: "Sie sind in der Pflicht. Sie müssen sich kümmern."

 Justizministerin spricht von "Luftnummer"

An der Ministerin prallte das ab. Das Ansinnen der SPD bezeichnete sie als "Luftnummer". Und eine Richteranklage sei schon deshalb nicht möglich, weil das fragliche Verfahren noch laufe. Dann werde "umgehend und umfassend geprüft, ob Maßnahmen ergriffen werden müssen". Allein der Zweifel an der Verfassungstreue reiche ohnehin nicht aus, den Richter aus dem Dienst zu entfernen. Strafrechtlich sei ihm laut Staatsanwaltschaft nichts vorzuwerfen.

Hohe Hürden sieht auch der Juraprofessor Jörg Philipp Terhechte. "Das Verfahren ist nur für ganz extreme Situationen vorgesehen", sagte der Experte für Öffentliches Recht der Uni Lüneburg dem hr. Von einem einzigen auffälligen Urteil könnte demnach kaum darauf geschlossen werden, dass der Richter grundsätzlich Verfassungsfeind sei. Die SPD verweist allerdings auf ein anderen Fall: 2014 war der Verwaltungsrichter aufgefallen, als er bezweifelte, dass Jobcenter überhaupt deutsche Fachbehörden seien. Sie hätten ja keine deutsche Bezeichnung.

Noch nie in der Bundesrepublik hat es allerdings eine Richteranklage gegeben. Dieses Argument, das die CDU anführt, lässt Jurist Terhechte nur eingeschränkt gelten. Verfassungsfeind ist schließlich Verfassungsfeind. Und in der Nachkriegszeit etwa hätte es wegen rechter Gesinnungen wohl mehr als einmal Anlass für solche Verfahren gegeben. Wenn es nicht dazu kam, habe es wohl auch an einem verbreiteten Korpsgeist in der Justiz gelegen.

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