Wahlen ab 16?

Eine SPD-Initiative fürs Kommunalwahlrecht ab 16 dürfte im Landtag scheitern. Dabei sind gerade Jugendliche für Politik zu begeistern, wie die Frankfurter Wahlforscherin Sigrid Roßteutscher weiß. Deshalb hält sie auch nichts davon, die Jugend mit vermeintlich "kleinen Wahlen" abzuspeisen.

Videobeitrag

Video

Landtag debattiert über Wahlrecht ab 16

hs_100522
Ende des Videobeitrags

Auf der Jugendseite des hessischen Landtags im Internet sprechen sich fast drei Viertel der Teilnehmer in einer nicht repräsentativen Umfrage dafür aus: Bereits mit 16 und nicht erst mit 18 Jahren sollte man in Hessen auf Landesebene wählen dürfen. Das Parlament befasst sich gerade mit einer Initiative der oppositionellen SPD, das wenigstens für Kommunalwahlen umzusetzen. Eine Debatte darüber steht am Mittwochvormittag auf der Tagesordnung.

Anders als in der Umfrage wird es dafür vor allem wegen des Widerstands der CDU keine Mehrheit geben. Zwei junge Hessen sind vor kurzem auch vor Gericht gescheitert. Die Frankfurter Wahlforscherin Sigrid Roßteutscher hält die wesentlichen Einwände gegen das Wahlrecht ab 16 für längst widerlegt.

hessenschau.de: Frau Professor Roßteutscher, als Sie 16 waren: Wären Sie damals reif genug gewesen, um wählen zu gehen?

Sigrid Roßteutscher: Oh ja. Ich war hochpolitisiert und hätte auf jeden Fall gewählt. Und ich hätte das gleiche gewählt wie später mit 18.

hessenschau.de: Andere sind in dem Alter vielleicht weniger weit?

Roßteutscher: Dass Menschen mit 16, 17 nicht reif genug zum Wählen wären und die Qualität der Demokratie leiden würde - das ist ein Mythos, der sich leider hält. Wir haben mittlerweile Befunde aus Österreich und aus Schleswig-Holstein, wo das Wahlalter auf 16 reduziert ist. Auch sie zeigen, dass dies so nicht zu halten ist. 16- und 17-Jährige, wenn sie denn wählen dürfen, haben generell größeres politisches Interesse als die über 18-Jährigen und sie gehen auch häufiger als die 18-Jährigen zur Wahl.

Diese jungen Menschen sind reif zum Wählen. Aber die wichtige Bedingung ist eben, dass sie es dürfen. Dann macht es Klick und man fängt an, sich zu informieren. Man spricht über Politik und damit steigt dann auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Leute wirklich politisch aktiv werden.

Die Frankfurter Wahlforscherin Sigrid Roßteutscher
Weitere Informationen

Zur Person

Sigrid Roßteuschtscher ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung, die sie 2007 mit gründete. An der Uni Frankfurt lehrt sie als Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt "sozialer Konflikt" und "sozialer Wandel". Eines ihrer Hauptforschungsgebiete sind Fragen der politischen Partizipation und der Wahlbeteiligung.

Ende der weiteren Informationen

hessenschau.de: Und welche Rolle spielen Bildungsunterschiede bei jungen Menschen?

Roßteutscher: Es waren ja zwei Hoffnungen mit dem Absenken des Wahlalters verbunden: dass die Wahlbeteiligung nicht weiter sinkt, und dass die Wahl gleicher wird und nicht nur Gymnasiasten wählen gehen. Die zweite Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt. In Gymnasien wird mehr über Politik gesprochen als in anderen Schulformen. Und wir haben eine genauso ungleiche Beteiligung wie bei älteren Wählern.

Zitat
„Immer mehr Jugendliche wachsen in Familien auf, wo schon die Eltern nicht wählen. Das ist so ansteckend wie das Aufwachsen in Elternhäusern, in denen gewählt wird.“
Zitat Ende

Neben der Schulform spielt auch das Elternhaus eine entscheidende Rolle. Die Wahlbeteiligung in Deutschland hat ja seit Ende der 80er-Jahre deutlich abgenommen. Und es wachsen seitdem immer mehr Jugendliche in Familien auf, wo schon die Eltern nicht wählen. Das ist genauso ansteckend wie das Aufwachsen in Elternhäusern, in denen gewählt wird. Die Befunde sind eindeutig: Junge Nichtwähler stammen eher aus einem Elternhaus mit geringerer Schulbildung.

hessenschau.de: Fielen die Stimmen der jüngeren Wähler überhaupt ins Gewicht? Wir haben in Hessen 4,4 Millionen Wahlberechtigte und lediglich 120.000 im Alter von 16 und 17.

Roßteutscher: Die Wahlbeteiligung, das ist ja eine der Befürchtungen, würden diese jungen Menschen auf keinen Fall senken. Sie würde wahrscheinlich eher einen ganz kleinen Tick steigen. Die Kohorte der 16- bis 17-Jährigen ist in Deutschland und den anderen europäischen Gesellschaften allerdings verschwindend klein. Wir haben eben eine alternde Gesellschaft. Und in den nächsten drei Dekaden bleibt die Gruppe der Über-70-Jährigen deutlich größer als die der 16-17-Jährigen.

Weitere Informationen

Andere haben es schon

Von Baden-Württemberg bis Thüringen: In den meisten Bundesländern dürfen Jugendliche ab 16 inzwischen an Kommunalwahlen teilnehmen. In einigen Ländern wie Brandenburg oder Schleswig-Holstein ist es in ihnen auch auf Landesebene möglich. Das gab es auch einmal in Hessen, aber nur ganz kurz von 1998 bis 1999. Dann kippten CDU und FDP die zuvor von Rot-Grün eingeführte Regelung wieder.

Ende der weiteren Informationen

hessenschau.de: Was brauchen Jugendliche, um eine fundierte Wahlentscheidung treffen zu können?

Roßteutscher: Sie brauchen nicht mehr als andere Wähler. Sie müssen sich mit der Politik auseinandersetzen. Sie müssen lernen, wo und wie man wählt. Sie müssen sich ein bisschen in die Parteiensysteme einfuchsen. Es wurde übrigens sehr lange diskutiert, ob es richtig war, das Wahlalter auf 18 Jahre zu senken. Wenn alle vier Jahre Bundestagswahl ist, sind die jeweiligen Erstwähler zwischen 18 und fast 22. Das ist privat und beruflich eine ganz prekäre Phase des Einstiegs ins Erwachsenenleben, und die Priorität liegt nicht wirklich bei der Politik. Von den 16- bis 17-Jährigen gehen dagegen viele noch zur Schule und leben bei den Eltern. Sie kann man über Schule und Familie noch eher motivieren, Wählerinnen und Wähler zu werden.

Zitat
„Wir sollten uns doch nicht einbilden, wir unterlägen keinen Einflüssen, bloß weil wir 40, 50 oder 60 sind.“
Zitat Ende

hessenschau.de: Liegt da nicht ein Problem? In dem Alter lassen sich junge Menschen vielleicht auch eher von den Eltern und Lehrern beeinflussen, wen sie wählen - oder von Freunden und der Werbung.

Roßteutscher: Wir werden alle ständig beeinflusst von Meinungsumfragen, von Prognosen, von unserem Elternhaus, von unserem Partner, von Kollegen, von Freunden. Und wir sollten uns doch nicht einbilden, wir unterlägen keinen Einflüssen, bloß weil wir 40, 50 oder 60 sind. Bei Jugendlichen sind es vielleicht andere als später. Bei ihnen sind es vielleicht eher Freundinnen und Freunde, bei uns eher Kollegen und die Medien.

hessenschau.de: Würden die Parteien auf jüngere Wähler reagieren – mit mehr Klimaschutz in den Programmen zum Beispiel?

Roßteutscher: Das ist die Hoffnung, dass junge Menschen mehr in den Fokus der Politik geraten. In dieser alternden Gesellschaft liegt er vor allem auf den Bedürfnissen älterer Menschen. Es wird sehr viel mehr über Rente geredet als Themen von Jüngeren. Wir reden allerdings eben nicht von einer Wählergruppe, die insgesamt für das Ergebnis relevant sein wird.

hessenschau.de: In Hessen ist maßgeblich die CDU gegen ein niedrigeres Wahlalter. Dahinter steckt, so wird ihr vorgehalten, die Angst vor schlechteren Wahlergebnissen.

Roßteutscher: Generell ist es so, dass wir drei Parteien haben, die vor allen Dingen von der alten Wählerschaft gewählt werden. Das sind CDU, CSU und SPD. Dagegen würden Grüne, FDP und Linkspartei von einem Wahlrecht ab 16 profitieren.

hessenschau.de: Schleswig-Holstein hat das Wahlrecht ab 16. Trotzdem ist die CDU dort gerade als Siegerin vom Platz gegangen.

Roßteutscher: Schleswig-Holstein ist auch ein Bundesland mit sehr vielen älteren Menschen. Nicht zuletzt deshalb hat die CDU diesen überwältigenden Wahlsieg errungen. Unter den jungen Menschen wäre sie dort allerdings nur zweitstärkste Partei hinter den Grünen geworden.

hessenschau.de: Die schwarz-grüne Koalition in Hessen will lieber den Jugendparlamenten mehr Mitsprache einräumen. Reicht das?

Roßteutscher: Nein. Das kann man machen und es schadet nicht. Das ist ein kleines Spielzeug. Politisch ist es irrelevant.

Zitat
„Wir signalisieren damit: Es gibt wichtige Wahlen, und es gibt weniger wichtige Wahlen. Und bei den weniger wichtigen dürfen die Kleinen auch mal ran.“
Zitat Ende

hessenschau.de: Die hessischen Grünen haben das Wahlrecht mit 16 eigentlich in ihrem Programm. Sie stimmen aus Koalitionsräson aber mit der CDU dagegen.

Roßteutscher: Koalitionen sind Realität. Ich würde den Grünen raten, sich mit aller Macht für den großen Wurf im Bund einzusetzen und damit alle anderen Ebenen zu reformieren. Die Debatte in Deutschland geht in die falsche Richtung. Die Ampelkoalition hat das Wahlrecht ab 16 in den Koalitionsvertrag geschrieben, für den Bund und die Europawahlen. Damit besteht aber die Gefahr, dass es nur für die Europawahl realisiert würde, weil da die einfache Regierungsmehrheit reicht. Im Fall der Bundestagswahl wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig.

Wir haben in einer Studie gesehen, wie problematisch solche Unterschiede sind. 2017 durften die 16- bis 17-Jährigen erstmals in Schleswig-Holstein den Landtag mitwählen und haben das in großer Zahl gemacht: informiert und rational. Zwei Monate später bei der Bundestagswahl war ihr Wahlrecht wieder weg. Das führt zu echter Frustration und dem Gefühl, vom System nicht ernst genommen zu werden. Wir signalisieren damit: Es gibt wichtige Wahlen, und es gibt weniger wichtige Wahlen. Und bei den weniger wichtigen dürfen die Kleinen auch mal ran.

Das Gespräch führte Benjamin Holler.

Weitere Informationen Ende der weiteren Informationen

Hinweis: In einer ersten Version ist uns in einer Frage ein Fehler unterlaufen, den wir korrigiert haben. Im Alter von 16 und 17 Jahren sind in Hessen rund 120.000 Menschen. Wir bitten um Entschuldigung.