Pro Asyl zum Unwort des Jahres "Jetzt muss Druck entstehen auf Griechenland, Kroatien oder Polen"

An EU-Grenzen werden Flüchtlinge ohne Chance auf Asylverfahren und zum Teil brutal zurückgedrängt, sie werden Opfer sogenannter Pushbacks. Der Begriff wurde nun zum Unwort des Jahres gekürt. Pro Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt befürchtet dahinter das Unwort des Jahrzehnts.
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Jury wählt "Pushback" als Unwort des Jahres

Seit Mittwochmorgen klingelt und vibriert Günter Burkhardts Handy quasi ohne Pause - der Geschäftsführer und Mitbegründer von Pro Asyl freut sich darüber. "Das ist ein Hoffnungszeichen", sagt er. Er hofft, dass mehr Aufmerksamkeit auf sogenannte Pushbacks Praxis gelenkt wird: die illegale, oft brutale Zurückweisung von Flüchtlingen an den EU-Grenzen.
Der Begriff war seit Mittwochmorgen in aller Munde, nachdem die Jury der Initiative "Unwort des Jahres" ihn als unsäglichsten Ausdruck des Jahres 2021 gekürt hatte - "weil mit ihm ein menschenfeindlicher Prozess beschönigt wird, der den Menschen auf der Flucht die Möglichkeit nimmt, das Menschen- und Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen", wie sie in Marburg mitteilte.
hessenschau.de: Herr Burkhardt, mit der in Frankfurt ansässigen Nichtregierungsorganisation Pro Asyl wollen Sie Menschenrechten eine unabhängige Stimme geben, sich für den Schutz von Flüchtlingen in Deutschland und Europa einsetzen. Wie beurteilen Sie die Wahl des Unworts des Jahres 2021?
Günter Burkhardt: Das ist eine sehr traurige Auszeichnung, und wir fürchten, dass dieser Begriff nicht nur das Unwort des Jahres, sondern das Unwort des Jahrzehnts werden könnte.
hessenschau.de: Warum?

Günter Burkhardt: Weil die anderen EU-Staaten nicht laut und deutlich hörbar gegen diese Praxis der Grenzstaaten protestieren. Wir erleben einen schleichenden Werteverfall, durch den man den Eindruck bekommen muss: Sogenannte Pushbacks werden einfach toleriert. Die alte Bundesregierung hat geleugnet, dass es sie überhaupt gibt. Und das, obwohl unabhängige Journalisten aus verschiedenen Ländern so was von gut dokumentiert haben, dass an Grenzen in unserer unmittelbaren Nähe in eklatanter Weise, systematisch und fortdauernd europäisches Recht gebrochen wird.
hessenschau.de: Wo sehen Sie diese Rechtsverletzungen?
Günter Burkhardt: Wir sehen diese systematische Praxis vor allem von Griechenland, Polen, Ungarn und Kroatien. EU-Staaten, die an ihren Grenzen Schutzsuchende zurückzuschieben, ohne dass sie Zugang zum Asylverfahren bekommen, ohne dass geprüft wird, ob sie Schutz brauchen. Das passiert flächendeckend.
hessenschau.de: Es gibt eine Studie, wonach allein im ersten Jahr der Corona-Pandemie mehr als 2.000 Menschen infolge dieser Zurückweisungen gestorben sind. Können Sie diese Zahl bestätigen?
Günter Burkhardt: Wir haben keine Zahlen darüber, aber ich halte diese Studie für durchaus glaubwürdig. Hinzu kommt, dass Zehntausende menschenrechtswidrig zurückgeprügelt werden. Bisher schweigt die EU-Kommission dazu - wenn überhaupt, sanktioniert sie Pushbacks mit minimalen Strafzahlungen. Dabei stellt es einen Einbruch in das Rechtssystem Europas dar, wenn elementare Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden.
hessenschau.de: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die EU nicht ausreichend interveniert?
Günter Burkhardt: Staaten im Zentrum Europas wie Frankreich oder Deutschland lehnen sich gerne zurück und schauen zu, wie ihnen die Grenzstaaten Europas Schutzsuchende vom Leib halten. Der Wille, Asyl zu gewähren, ist auch in demokratischen Staatsstrukturen schwach geworden. Diese intervenieren nicht nur unzureichend, sondern schlimmer: Deutschland hat Wärmebildkameras an Kroatien geliefert, damit dort nachts Grenzen überwacht werden. In der Ägäis gibt es Aufklärungseinsätze mit deutschen Beamten.
hessenschau.de: Die neue Bundesregierung hat sich per Koalitionsvertrag positioniert, dass sie gegen Pushbacks vorgehen will.
Günter Burkhardt: Und wir appellieren an sie, das auch umzusetzen. Wir erwarten, dass Olaf Scholz bei seinen ersten Auslandsbesuchen als Bundeskanzler eine klare Kante zeigt und für Menschenrechte eintritt. Gleiches gilt für die neue Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und die Innenministerin Nancy Faeser (SPD).
hessenschau.de: Was muss Ihrer Meinung nach EU-weit geschehen, um das Unwort des Jahres nicht zum Dauerbrenner werden zu lassen?
Günter Burkhardt: Es kann nicht sein, dass Staaten, die so eklatant Menschenrechte mit Füßen treten, mit EU-Steuermitteln aufgepeppelt werden. Deswegen muss dieses Unwort ein Weckruf sein an die demokratischen Parteien und Entscheider in der EU. Jetzt muss Druck entstehen auf Griechenland, Kroatien oder Polen. Das bedeutet, dass auch über finanzielle Sanktionen gesprochen werden muss, die weh tun.
Das Gespräch führte Max Sprick.