Abstimmung am 28. Oktober Der Zombie, der Schuster und die Verfassungsreform

28. Oktober? Landtagswahl, klar! Wer aber die gleichzeitig anstehende Volksabstimmung ignoriert, drückt sich um grundsätzliche Fragen unserer Demokratie - und verpasst eine makabre Geschichte.
Unaufgeregtheit ist vermutlich nicht der schlechteste Gemütszustand, wenn Bürger über ihre Verfassung befinden. Aber muss es gleich "Lethargie" sein? Die jedenfalls hatte noch im August der Präsident des Hessischen Staatsgerichtshofs, Roman Poseck, im Umgang der Bürger mit der Reform ihrer Landesverfassung diagnostiziert, wie die FAZ berichtete.
Ob die Begeisterung für das Thema so kurz vor dem 28. Oktober noch wächst, ist nicht ausgemacht. Fest steht: Verhandelt werden zum Teil ganz grundsätzliche Fragen.
Worum ging's nochmal?
Um insgesamt 15 Punkte. Die Zustimmung der Wähler vorausgesetzt, würde gestrichen: die Todesstrafe. Es würden Hürden abgebaut: beim Mindestalter für Landtagsabgeordnete und bei Volksbegehren. Es würden im Text gestärkt: die Rechte von Kindern entsprechend der UN-Kinderrechtskonvention, der Anspruch von Frauen auf Gleichberechtigung, die Unabhängigkeit des Landesrechnungshofes, der Datenschutz oder das Bekenntnis zur EU. Es würde nachträglich definiert, was Staatsziele sind - und neue geben: Nachhaltigkeit, Ehrenamt, Sport, Kulturförderung und die Förderung der Infrastruktur. Künftig würde es reichen, Gesetze auf digitalem Weg zu verkünden.
Eine Reform, 15 Punkte
Der Landtag informiert online umfassend über die von ihm vorgeschlagene Verfassungsreform, auch in leichter Sprache. Hier finden Sie diese Infos - und eine Abbildung des Stimmzettels.
Ende der weiteren InformationenUnd wer braucht das?
Eine demokratische Verfassung? Sie definiert und garantiert Grundwerte und rechtsstaatliche Ordnung eines demokratischen Staates. Dafür haben hierzulande viele Menschen geblutet - und tun es anderswo immer noch. Eine Landesverfassung? Im Föderalismus, der nach der Erfahrung der Nazi-Zeit vor übermächtigen Zentralregierungen schützen soll, muss das alles auch ein Bundesland festschreiben und ordnen. Die Reform? Über deren Sinn oder Unsinn sollen ja die Wähler entscheiden. Diese Freiheit garantiert ... genau: die Verfassung.
Warum erst jetzt?
Hessen war ursprünglich früh dran: Die Verfassung vom 1. Dezember 1946 ist die älteste der Bundesrepublik und damit auch drei Jahre älter als das Grundgesetz. Mit der größeren Reform ist das Bundesland eher spät: Rheinland-Pfalz, Bremen, Berlin oder Niedersachsen etwa haben das schon hinter sich, Nordrhein-Westfalen vor zwei Jahren. Einen früheren Anlauf gab es auch in Hessen: Doch 2003 konnten sich nur drei von vier Parteien auf eine Reform einigen: CDU, Grüne und FDP. Die SPD weigerte sich damals, weil die ins Auge gefasste Veränderung eine "Gesamtverunstaltung" sei.
Leibeigenschaft abgeschafft
Eine der ersten Verfassungen auf deutschem Gebiet war das "Höchste Organisations-Patent der Verfassung des Großherzogtums Frankfurt". Sie brachte 1810 im Gefolge Napoleons und mit Verspätung Errungenschaften der französischen Revolution mit sich: die Abschaffung der Leibeigenschaft und Eingriffe in adelige Privilegien.
Ende der weiteren InformationenWurde schon früher was geändert?
Die nun zur Abstimmung stehende Reform wäre die mit Abstand umfangreichste. Geändert wurde freilich schon vorher: 1950 wurde das Mindestalter für Landtagsabgeordnete von 25 auf auf 21 Jahre gesenkt, das nun auf 18 herabgesetzt werden soll. 1970 fiel das Mindestalter der Wahlberechtigten von 21 auf 18. Im Jahr 1991 kam die Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten hinzu, 2011 die Schuldenbremse.
Wer hat sich das ausgedacht?
Eine Enquete-Kommission des Landtags in zweijähriger Arbeit. Ihr gehörten 15 Abgeordnete aller Fraktionen an. Jede Fraktion durfte einen Sachverständigen bestellen. Auch Verbände, Kirchen und andere Einrichtungen nahmen Stellung. Und Bürger konnten Vorschläge machen. Am Ende stimmte der Landtag ab und mit breiter Mehrheit zu.
Welche Vorschläge fielen durch?
Den von der CDU nach Grundgesetz-Vorbild gewünschte Gottesbezug in der Präambel gibt es nicht. Auch nicht das von der SPD verfochtene Grundrecht auf gebührenfreie Bildung. Die Linke blitzte mit dem Wunsch nach einem Recht auf Wohnen ab, die FDP damit, einem Ministerpräsidenten maximal zwei Amtszeiten zu erlauben.

Was sagen die Befürworter?
Vor allem, dass das hessische Pendant zum Grundgesetz in die Jahre gekommen ist. Viele der 15 Reformpunkte, die zur Abstimmung stehen, umreißen Probleme, welche die Väter der Landesverfassung direkt nach Kriegsende nicht sahen - oder nicht vorhersehen konnten: Die Europäische Union zum Beispiel gab es nicht, das Internet und sein Datenschutzproblem auch nicht. Und ohne das Wort "Nachhaltigkeit" war auch die Idee dahinter nicht verbreitet. Die nun vorgeschlagene formelle Abschaffung der Todesstrafe sei zudem ein wichtiges Zeichen in einer Zeit, in der laut Amnesty International jährlich mindestens 1.000 Menschen weltweit enthauptet, erhängt oder totgespritzt werden. Und in der Türkei etwa wird laut über die Wiedereinführung nachgedacht.
Und die Kritiker?
Kritik hielt sich eher in Grenzen. Im Landtag äußerte die Linke sie am deutlichsten. Die Reform sei in Teilen misslungen, mit "symbolischem Murks" unter den Staatszielen. Nicht nur Staatsgerichtshof-Präsident Poseck ("Kein Jahrhundertentwurf, aber ein Meilenstein") hätte sich einen eigenen Termin für die Abstimmung gewünscht, damit keine Landtagswahl die Reform überschattet.
Eine Reform, ein einziges Kreuzchen?
Das geht: Wer will, kann über die Reform im Paket abstimmen. Über jeden der 15 Punkte können die Wähler aber auch einzeln mit "Ja" oder "Nein" befinden. Diejenigen Reformpunkte sind angenommen, für die es eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen gibt.
Und wie war das nun mit dem Zombie?
Zugegeben, war ein bisschen reißerisch in der Überschrift. Erfunden sind der Untote und der Schuhmachergeselle aber nicht. Als "Zombie" hat der Berliner Richter Urban Sandherr die noch immer in Hessen auf dem Papier stehende Todesstrafe bezeichnet. Sie spukt in Artikel 21 noch herum, hätte aber nie zur Anwendung kommen können. Denn der Grundgesetzartikel 123 hat sie für abgeschafft erklärt - und der gilt. Der Schustergeselle Ludwig Hilbert war der letzte Mensch, der in Hessen öffentlich vor den Henker treten musste. Er starb am 14. Oktober 1864 in Marburg auf dem Marktplatz durchs Schwert, weil er seine schwangere Geliebte getötet hatte. Zunächst war er sogar freigesprochen worden. Der Schädel soll noch jahrzehntelang im Anatomischen Institut Marburgs aufbewahrt worden und dann verschwunden sein.
Als die hessischen Gebiete kurze Zeit später preußisch waren, endete die Zeit der vollstreckten Todesurteile in Hessen freilich nicht - im Gegenteil. Die zivilen Strafgerichte im Dritten Reich ließen deutschlandweit rund 16.000 Menschen hinrichten, viele aus politischen und rassistischen Gründen. Während des Krieges sprach zum Beispiel das Oberlandesgericht Kassel 15 Todesurteile aus, die in Frankfurt-Preungesheim vollstreckt wurden.