Verfassungsreform So will Hessen mehr direkte Demokratie wagen

Ob Windräder oder Baugebiete: Mit Bürgerbegehren haben Initiativen schon viele ungeliebte Projekte zu Fall gebracht. Die Verfassungsreform soll jetzt die direkte Einmischung in die Landespolitik erleichtern - obwohl gleichzeitig eine neue Hürde eingezogen wird.
Auf den Taunushöhen bei Oestrich-Winkel könnten inzwischen Windräder stehen, doch Gerhard Gänsler und Hans Lange vom Verein Pro Kulturlandschaft fanden: In den Rheingau gehören sie nicht. Die beiden wehrten sich, organisierten ein Bürgerbegehren mit Unterschriftensammlung und erreichten so einen Bürgerentscheid mit Abstimmung. "Wir haben umfangreiche Werbekampagnen entwickelt, um den Bürger zu informieren", sagt Gänsler. Die Anstrengungen zeigten Wirkung: Die Oestrich-Winkler stimmten mehrheitlich gegen die Windkraftanlagen.
15 Verfassungsänderungen stehen zur Wahl
Am Sonntag gibt es im Wahllokal nicht nur den Zettel mit der Erst- und Zweitstimme für die Landtagswahl. Die Bürger sind gleichzeitig aufgerufen, über die erste umfassende Reform der aus dem Jahr 1946 stammenden Landesverfassung zu entscheiden. Die Stärkung der direkten Demokratie ist einer von 15 Punkten. Weitere Hintergründe zur Reform finden Sie hier.
Ende der weiteren InformationenAuf kommunaler Ebene kam es in Hessen schon zu mehr als 150 solcher Bürgerentscheide. Auch auf Landesebene gibt es diese Möglichkeit zu direkter Demokratie: Volksbegehren und Volksentscheide, mit denen Bürger Gesetzentwürfe in den Landtag einbringen können. Der Verein "Mehr Demokratie" zählt bisher gerade einmal sieben Anläufe. Und sie sind alle gescheitert: die Initiative zur Wiedereinführung des Buß- und Bettags genauso wie die gegen ein Rauchverbot, für die Briefwahl oder die neunjährige Gymnasialzeit.
"Hürden kaum zu schaffen"
Die Hürden sind hoch wie in keinem anderen Bundesland - und kaum zu schaffen. Die Verfassungsreform, über die in Hessen die Wähler zeitgleich mit der Landtagswahl am 28. Oktober abstimmen, soll das ändern. "Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie erleichtern", lautet das erklärte Ziel für die Neufassung von Artikel 124, der die Sache regelt.
Um ein Volksbegehren Gesetzesentwürfe in den Landtag einzubringen, müssen die Initiatoren um Unterstützung werben. Innerhalb einer festen Frist müssen sich 20 Prozent aller Wahlberechtigten in Listen eintragen. Genau diese Quote ist einer der Gründe, warum der Verein Hessen als besonders schwieriges Pflaster für direkt-demokratische Initiativen bewertet.
"Eigentlich nicht zu schaffen"
"Das sind fast 900.000 Unterschriften, die höchste Zahl bundesweit“, sagt Felix Hoffmann vom Landesverband Hessen des Vereins zum Quorum. Für Initiativen eigentlich nicht zu schaffen. Die Verfassungsreform sieht vor, dass in Zukunft schon fünf Prozent der Stimmberechtigten für ein erfolgreiches Volksbegehren reichen sollen.
Hoffmann kritisiert aber, dass die Reform im Gegenzug bei den Volksentscheiden eine neue Hürde aufbaue. Die Entscheide werden fällig, wenn der Landtag die im Volksbegehren gewünschten Gesetze ablehnt. Dann sollen die Bürger das letzte Wort haben.
Bisher gab es laut Gesetz bei dieser Volksabstimmung nur eine Bedingung: eine einfache Mehrheit. In Zukunft muss obendrein die Zustimmung von mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten vorliegen. "Es ist nicht gut, wenn so ein Verfahren ins Leere läuft und bürgerschaftliches Engagement dadurch nichtig wird“, kritisiert Hoffmann.
Minderheit soll nicht nur Mehrheit werden
Der Vorschlag zur Anpassung der Bedingungen für Volksbegehren und Volksentscheide ist einer von 15 geplanten Änderungen der hessischen Verfassung, über die am Sonntag abgestimmt wird. Ausgehandelt hat sie eine Enquetekommission aus Vertretern aller Fraktionen des Landtags. Zwei Jahre lang haben sie über die Vorschläge diskutiert.
Einer der Sachverständigen der Enquetekommission war Martin Will, Professor an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden. Der Staatsrechtler verteidigt die neue Hürde für einen gültigen Volksentscheid. "Das soll dazu dienen, dass nicht eine mobilisierte Minderheit plötzlich zur Mehrheit wird", sagt Will. Gerade bei einer geringen Beteiligung an Volksentscheiden bestehe diese Gefahr.
Mehr Legitimität für Politik
Der Gießener Politikwissenschaftler Eike-Christian Hornig hofft darauf, dass viele Menschen die große Chance zur Partizipation an demokratischen Entscheidungen ergreifen. Mit Volksbegehren und Volksentscheiden könne die Legitimität der Politik als Ganzes und die Information über den politischen Prozess erhöht werden.
Diese Möglichkeiten haben auf kommunaler Ebene im Rheingau Gerhard Gänsler und Hans Lange genutzt, als es um die Windräder ging: "Mit dem Oestricher Entscheid sind die Leute aufgewacht und dann ging es wie ein Domino."