Coronavirus und der "Fahrradhelm-Effekt" Warum die 2G-Regel nicht unbedingt vor Infektionen schützt

Steigende Infektionszahlen, Corona-Ansteckungen auch unter Geimpften und Genesenen - wie kann die vierte Welle gebrochen werden? Die 2G-Regel sei nicht das Gelbe vom Ei, sagt Virologe Martin Stürmer. Sie erinnert an den "Fahrradhelm-Effekt".
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Wie kann die vierte Welle gebrochen werden?

Nur geimpfte und genesene Menschen durften bei dem Chorkonzert in Freigericht (Main-Kinzig) teilnehmen, sowohl als Sänger als auch als Zuhörer - und das wurde auch streng kontrolliert, sagt Karlheinz Mayer (Name geändert). Das bestätigen auch die Behörden.
Deshalb habe er sich auch keine Sorgen gemacht, als fünf Tage nach dem Konzert erste Symptome bei ihm auftraten, sagt der 71-Jährige. Er habe sich eben erkältet, dachte er: "Grippe, Husten, oder was weiß ich?"
Sollten sich auch Geimpfte und Genesene testen müssen?
Er hat sich aber mit Corona infiziert - wie bislang 20 weitere Konzertteilnehmer auch. Das teilte der Main-Kinzig-Kreis am Dienstag mit. Weitere Testergebnisse stehen noch aus, die Zahl der Infizierten könnte sich also weiter erhöhen.
Ab Donnerstag verschärft das Land Hessen aufgrund der aktuellen Pandemie-Entwicklung mit immer weiter steigenden Infektionszahlen und immer mehr belegten Intensivbetten seine Corona-Regeln.
Wer in Hessen dann ins Restaurant will, zu einer Messe oder ins Konzert, muss die 3G-Regel erfüllen: Wer nicht geimpft oder genesen ist, kann allerdings keinen Schnelltest mehr vorzeigen, sondern muss einen verlässlicheren und teureren negativen PCR-Test dabei haben.
Ausbrüche wie jener in Freigericht unter 2G-Bedingungen aber werfen die Frage auf: Ist das richtig so?
2G-Regelung "nicht das Gelbe vom Ei"
"2G wird jetzt gerne als der Schlüssel zur Pandemie-Brechung gesehen", sagt der Frankfurter Virologe Martin Stürmer im hr-Interview. Man dürfe aber angesichts der Ausbrüche unter 2G-Bedingungen eines nicht vergessen: "Es ist zur aktuellen Zeit, bei dem aktuellen Infektionsgeschehen durchaus möglich, dass ein Genesener oder ein Geimpfter das Virus in sich trägt und es zur Ansteckung kommen kann."
Vor allem müsse man sich vor Augen führen: "Eine Impfung schützt vor schweren Verläufen. Ihr primäres Ziel war es aber nie, die Virus-Übertragung zu verhindern." Es sei "nettes Beiwerk", wenn man als Geimpfter auch vor Infektion und Virus-Weitergabe geschützt sei, sagt Stürmer. "Das ist aber nicht bei 100 Prozent der Geimpften der Fall." Insofern müsse man die 2G-Regelung sehr vorsichtig sehen, sie sei "nicht das Gelbe vom Ei".
"Fahrradhelm-Effekt"
Gerade, wo geimpfte und genesene Menschen wie Karlheinz Mayer sich vor Ansteckungen sicher wähnen - was übrigens nur allzu menschlich und aus anderen Verhaltensweisen bekannt ist. Zum Beispiel beim Fahrradfahren.
In einem mittlerweile berühmten Experiment haben Forscher in Deutschland und Kanada vor etwas mehr als zwei Jahren den "Fahrradhelm-Effekt" erforscht. Der Helm kann seinem Träger bei einem schweren Sturz die Gesundheit oder gar das Leben retten. Viele Radler tragen ihn also. Eine Helmpflicht aber gibt es nicht, auch wenn sie in Deutschland immer wieder diskutiert wurde und wird.
Das Experiment zeigte, dass die Hirnaktivität, die das Abwägen während Entscheidungsprozessen kennzeichnet, bei Helmträgern weitaus weniger ausgeprägt war als bei den Probanden ohne Helm. Bedeutet: Wer einen Helm trägt, dessen Risikobewusstsein sinkt. "Die kognitive Kontrolle ist reduziert", sagt Barbara Schmidt von der Uniklinik Jena, die bei der Studie mitgeforscht hat.
Zurück zur Corona-Impfung: Schmidt vermutet, dass Geimpfte sich zwar nicht leichtsinnig verhielten. Aber sie nähmen Infektionsrisiken nicht mehr so bewusst war: "Bin ich im Außenraum, bin ich im Innenraum, wie groß ist der Raum, wie viele Leute sind im Raum" - solche Fragen träten in den Hintergrund. Umso größer sei die Überraschung, wenn das Virus doch überspringt.
Tests auch für Geimpfte und Genesene
Warum eine Regelung trotzdem Sinn macht, die nur Helmträger beziehungsweise Geimpfte ohne Abstand und Masken zusammenkommen lässt? "Die Wahrscheinlichkeit, das Virus an andere Menschen zu übertragen, ist als Geimpfter oder Genesener deutlich geringer", sagt Virologe Stürmer. "Und wenn sich zusätzlich in meiner Umgebung primär auch nur Geimpfte oder Genesene aufhalten, ist insgesamt die Übertragung deutlich reduziert." Und so ein großer Beitrag für das Allgemeinwohl getan.
Dennoch sagt Stürmer, es gebe für ihn persönlich "zahlreiche Situationen, wo mir 2G nicht reichen würde, wo ich es mit einer zusätzlichen Testpflicht absichern würde". Veranstaltungen zum Beispiel, wo Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Innenraum über längere Zeit enge Kontakte haben.
Sprich: Nicht nur Teilnahmen auf Geimpfte und Genesene beschränken, sondern von eben diesen auch einen negativen PCR-Test verlangen.
Lockdown nicht mehr umsetzbar
Dennoch, das stellt Stürmer klar, "ist und bleibt das Impfen der wichtigste Baustein in der Pandemie-Bekämpfung". Dabei stehe man vor den bekannten zwei Problemen: Zum einen müssten jene Menschen überzeugt werden, die sich bislang nicht impfen lassen wollen, zum anderen müssten jene Menschen eine Booster-Impfung erhalten, die Teil einer Risikogruppe sind.
Hinzu komme ein weiterer Baustein: viel mehr testen. Eben auch Genesene und Geimpfte. Nur durch die Kombination dieser Bausteine lasse sich das aktuell so heftige Infektionsgeschehen wieder einfangen, sagt Stürmer. Aus rein virologischer Sicht fielen ihm zwar auch "Kontaktreduzierungen in Richtung Lockdown" ein, diese Instrumente seien aber "zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr umsetzbar".
Wie der Helm so die Impfung
Karlheinz Mayer, der sich trotz Impfung beim 2G-Konzert infizierte, hat bis jetzt keine größeren Beschweren. Genau wie die anderen Infizierten, berichtet der Main-Kinzig-Kreis. Offenbar hat die Impfung also geholfen.
Genau wie ein Fahrradhelm, sagt Forscherin Schmidt: "Wenn ich einen Helm aufhabe, kann ich einen Unfall haben, der ist dann aber nicht so schwer. Wenn ich geimpft bin, kann ich Corona haben, aber nicht so schwer."