Vor zehn Jahren flog die rechtsextreme Terrorgruppe NSU auf, die auch in Kassel mordete. Dort setzt sich die Initiative 6. April dafür ein, dass die rassistischen Morde nicht vergessen werden - und deren Aufklärung Folgen hat.

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Zehn Jahre nach der NSU-Enttarnung

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November 2011: Die rechtsextreme Terrorgruppe NSU ("Nationalsozialistischer Untergrund") verübt einen Überfall auf eine Sparkasse in Eisenach (Thüringen). Die beiden Täter Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verstecken sich danach in einem Wohnmobil. Den Ermittlern zufolge erschießen sie sich, als die Polizei sie entdeckt. Ihre Komplizin Beate Zschäpe zündet die gemeinsame Wohnung in Zwickau (Sachsen) an. Kurz darauf stellt sie sich in Jena.

Im April 2006 hatte der NSU auch in Hessen zugeschlagen: Die Terroristen erschossen Halit Yozgat in seinem Internet-Café in Kassel. Zwischen September 2000 und November 2011 ermordeten die Rechtsextremisten zehn Menschen, verübten Sprengstoffanschläge und begingen Raubüberfälle. Vor zehn Jahren wurden ihre Mitglieder enttarnt. Ayse Gülec von der Initiative 6. April aus Kassel spricht über die Lehren aus der rechtsextremen Terrorwelle:

hessenschau.de: Als damals bekannt wurde, wer die Mörder auch von Halit Yozgat in Kassel gewesen sind - hat Sie da überrascht, welches Ausmaß die NSU-Taten hatten, oder bestätigte es den Verdacht, den Sie und andere da schon lange hatten?

Ayse Gülec: Es war keine Überraschung in dem Sinne, dass diese Form von rechtsterroristischer Gewalt oder rassistischer Gewalt etwas Neues war. Wir haben diese rassistische Gewalt bereits in den 1980er Jahren erlebt. In Solingen, in Mölln und so weiter. Auch die Angehörigen haben ja immer wieder die Ermittlungsbeamten aufgefordert, nicht gegen sie als Angehörige zu ermitteln, sondern in eine andere Richtung. Dass diese Taten von Nazis begangen worden sein müssen, haben alle Angehörigen durchgängig immer wieder gesagt.

Das wissen wir übrigens auch, weil es den NSU-Prozess gab - und die Familien der Opfer dort auch versucht haben, ihr Wissen stark einzubringen.

hessenschau.de: Was hat das Versagen der Behörden, das im Zuge der Ermittlungen aufgedeckt wurde, bedeutet für die Szene der Menschen, die sich um die Angehörigen gekümmert hat?

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Erkenntnisse aus dem rechten Terror

Demonstrierende gehen in Reihe in einer Fußgängerzone und tragen Portraits der Ermordeten vor ihren Körpern.
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Gülec: In allen Städten der NSU-Morde haben sich sehr schnell Initiativen gebildet, um einen Kontakt für die Angehörigen aufzubauen. Die waren ja lange Zeit alleine damit - und durch die Ermittlungsbeamten und durch die Behandlung der Ermittlungsbeamten auch von ihrem Umfeld isoliert. In Kassel bildete sich die Initiative 6. April, die dann die Familie von Halit Yozgat auch in ihrem Anliegen nach einem Gedenkort unterstützt hat.

Blick auf das Straßenschild Halitplatz, benannt nach dem Namen des Kasseler NSU-Mordofers Halit Yozgat.

hessenschau.de: Ihre Initiative setzt sich bis heute aktiv für das Gedenken und das Auseinandersetzen mit den NSU-Taten ein. Warum ist das auch nach zehn Jahren noch notwendig?

Gülec: Ich denke, dass wir das tun müssen. Das ist unsere Aufgabe gerade nach dem NSU-Prozess, in dem an die Oberfläche kam, was den Angehörigen angetan worden ist. Nicht nur die Rolle der Polizei, sondern auch der Medien, der Öffentlichkeit - alle haben zu verantworten, was den Angehörigen passiert ist. Ich denke, dass es ganz wichtig ist, nicht zu vergessen. Und wenn wir an Halit erinneren, erinneren wir natürlich auch an Enver Simsek und alle anderen Mordopfer.

Mit einem Bild seines ermordeten Sohnes Halit erschien Vater Ismail Yozgat zu einer Sitzung des NSU-Ausschusses im Landtag.

hessenschau.de: Hat sich im Bewusstsein der Öffentlichkeit bei der Bekämpfung von Rassismus und rechter Gewalt seit dem Bekanntwerden des NSU etwas in Deutschland verändert?

Gülec: Ich glaube, es hat sich schon etwas verändert - das Bewusstsein dafür, wie wichtig es ist, dass den Angehörigen Gehör geschenkt wird. Wir haben durch den NSU-Prozess erfahren, dass die Angehörigen und ihr Wissen über viele Jahre nicht wahrgenommen wurden. Statt sie zu hören, wurden sie immer wieder 'gesilenced' durch Polizeibeamte. Und auch im fünf Jahre andauernden Gerichtsverfahren gab es eigentlich nicht den Raum für die Analysen und für das Wissen der Angehörigen.

In Kassel gab es 2006, nur einen Monat nach dem Mord an Halit, eine große Demonstration unter dem Titel "Kein zehntes Opfer". Das heißt, die Angehörigen wussten damals schon, dass etwas vor sich ging. Sie forderten die politischen Vertreter, aber auch die Polizeiapparate auf, in die richtige Richtung zu ermitteln. Hätte man das damals schon gemacht, wäre vielleicht Michele Kiesewetter, die vom NSU ermordete Polizistin, noch am Leben.

hessenschau.de: Solche Taten aufzuklären, ist Aufgabe des Verfassungsschutz. Ist der Verfassungsschutz Ihrer Meinung nach geeignet, um Rechtsextremismus zu bekämpfen?

Gülec: Nein. Absolut nicht.

hessenschau.de: Warum nicht?

Gülec: Das zeigte sich gerade am Mord in Kassel sehr deutlich. Während der Tatzeit saß ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes im Internetcafé: Andreas Temme musste von der Polizei anhand seiner Login-Daten ausfindig gemacht werden und hat immer wieder gesagt, er habe nichts mitbekommen. Es gibt ja auch eine Untersuchung von Forensic Architecture, die minutiös untersucht und bewiesen haben, dass diese Aussage nicht stimmen kann, dass höchstwahrscheinlich dieser Verfassungsschutzmitarbeiter den Mord mitbekommen haben muss.

Das Problem des Verfassungsschutzes ist seine offensichtliche Nähe zu Rechtsextremisten und seine Zusammenarbeit und Verflechtung mit der rechtsextremistischen Szene.

Demonstration am 11. Jahrestag des NSU-Mordes in Kassel

hessenschau.de: Sie haben den NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag mitverfolgt. Was erwarten Sie nun vom Untersuchungsausschuss im Mordfall Walter Lübcke?

Gülec: Soweit ich mitbekommen habe, ist auch dort das Problem, dass bestimmte Sachen blockiert werden. Es gibt ja auch die Petition zur Freigabe der NSU-Akten. Zunächst waren diese Akten für 120 Jahre gesperrt. Aber es gab Proteste und die Frist wurde auf 30 Jahre reduziert. Ich muss das fast schon lakonisch sagen: auf 30 Jahre reduziert! Das ist auch eine zu lange Zeit. Wenn in einem Land wie Deutschland Akten vernichtet werden, Akten für 120 oder 30 Jahre von der Öffentlichkeit ferngehalten werden, Zeugen sterben, Beweismittel vernichtet werden - dann es ist doch Zeit, dass auch die Zivilgesellschaft aufsteht. Dann ist es unsere Aufgabe, für Aufklärung zu kämpfen.

Das Gespräch führte Werner Schliericke.

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