Filip Kostic stemmt den Pokal in die Höhe.

Adi Hütter? Vergessen. Der Streik von Filip Kostic? Egal. Das Verpassen der Champions League im letzten Jahr? Ein Schlüsselmoment. Eintracht Frankfurt ist nach dem Titelgewinn mit sich und dem Schicksal im Reinen. Oliver Glasner wird zum Philosophen.

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Das wohl berühmteste Tor der neueren Geschichte von Eintracht Frankfurt war ein Tor mit langem Anlauf. Im Pokalfinale 2018 lief Mijat Gacinovic über 70 Meter auf ein leeres Tor des FC Bayern zu und dann in die Ewigkeit. Die Sekunden dieses Sprints fühlten sich an wie Minuten, Tage oder Wochen. Nicht stolpern, nicht zögern, einfach weiter laufen. Am Ende, als Gacinovic den Ball über die Linie schob, entluden sich alle Emotionen - und die Eintracht war Pokalsieger. Hessen eskalierte.

Knapp vier Jahre später erlebte die Eintracht wieder einen solchen Moment. Denn auch der Triumph am Mittwoch in der Europa League gegen die Glasgow Rangers, dieser erste europäische Titel seit 42 Jahren, war ein Triumph mit langem Anlauf. Der Startschuss fiel ziemlich genau vor einem Jahr.

Glasner: Ursache für Sieg liegt im Scheitern

"Wisst ihr, wo die Ursache für den heutigen Titel liegt? Im letztjährigen Scheitern an der Qualifikation", erklärte Trainer Oliver Glasner auf der Pressekonferenz nach dem 5:4-Erfolg im Elfmeterschießen. "Das heute wäre ohne damals nicht möglich gewesen."

Damals, in der Schlussphase der vergangenen Saison, hatte die Eintracht trotz aussichtsreicher Position und nach einer unterirdischen Bundesliga-Schlussphase die Premieren-Teilnahme an der Königsklasse verpasst und sich innerlich selbst zerfleischt. Der damalige Trainer Adi Hütter hatte zunächst seinen Verbleib in Frankfurt verkündet und dann das genaue Gegenteil getan. Der damalige Sportvorstand Fredi Bobic floh zum vermeintlichen Big City Club Hertha BSC und hinterließ seinen Nachfolgern viel Arbeit und einen unfertigen Kader. Die Eintracht glich kurzzeitig einem Scherbenhaufen.

Torwart Trapp: Habe viel über Karma geredet

"Ich habe viel über Karma geredet", blickte auch Torhüter Kevin Trapp im Moment des größten Erfolgs der Vereinsgeschichte noch einmal zurück. "Letztes Jahr waren wir alle sehr enttäuscht, dass wir es nicht geschafft haben. Ein Jahr später schaffen wir es über einen internationalen Titel in die Champions League." Im Mai 2021 am Boden, im Mai 2022 im siebten Fußball-Himmel. Bloß nicht zögern, bloß nicht hadern, niemals aufgeben. Genau diese Mentalität hat die Eintracht verinnerlicht.

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"Es gibt im Leben Rückschläge. Aber dann zeigt sich, ob du ein Großer bist", fasste auch Coach Glasner, im Nebenberuf heimlicher Philosoph, das vergangene Jahr der Eintracht zusammen. Es gibt Teams, die auseinanderbrechen und sich geschlagen geben. Und es gibt Teams, die zurückkommen. Weiter, immer weiter. "Du kannst scheitern. Das Entscheidende ist aber, was du draus machst", so Glasner. "Und unsere Jungs haben das Größtmögliche geschafft." Schicksal. Es sollte wohl einfach so sein.

Kostic ist der König dieser Mannschaft

Im Glutofen von Sevilla schloss sich am Mittwochabend für die Eintracht jedoch nicht nur ein großer Kreis, sondern gleichzeitig auch mehrere kleine. Der Abschied des knochigen Ex-Übungsleiters Hütter, für den sich laut eigener Angaben im vergangenen Sommer "einfach nur die Farben änderten", ist vergessen. Sein Nachfolger Glasner, der anfangs ebenfalls etwas trocken rüberkam, ist inzwischen im Verein und in der Stadt voll angekommen. Dass er den Weg zur Siegerehrung per Diver auf dem Bauch zurücklegte, passt zu ihm und zur Eintracht.

Dass zudem Filip Kostic, der sich im Sommer zu Lazio Rom und auf die etwas größere Fußballbühne streiken wollte, die Bühne Europa League für gleich mehrere Gala-Auftritte nutzte und am Mittwoch nach Abpfiff mehrere Minuten alleine vor der Kurve mit den Fans feierte, passt ebenfalls ins Bild. Kostic ist der König dieser Mannschaft, der immer auf dem Sprung zu einem Top-Team steht, der nun aber doch bleiben könnte. "Ich denke nicht, dass das sein letztes Spiel war", verriet Glasner. "Wir haben eben auf dem Spielfeld geredet."

Bobic, Hütter und Silva sind vergessen

Der Ärger um Kostic: vergessen. Der Ärger um Hütter: vergessen. Dass es die Eintracht im Sommer verpasste, den Abgang von Top-Stürmer André Silva adäquat aufzufangen: vergessen. Es gibt ja jetzt Rafael Borré, der zwar kein Mittelstürmer ist, aber trotzdem gegen Barcelona, West Ham und die Glasgow Rangers traf. Dass Bobic inzwischen bei der Hertha ist und gegen den Abstieg kämpft: vergessen. Dass bei einer Niederlage wohl sehr vieles zusammengebrochen wäre: vergessen und egal. "Wir können alle sehr zufrieden sein, wie es gelaufen ist", so Trapp.

Die Eintracht hat in nur einem Spiel alle offenen Rechnungen beglichen und steht nun erst einmal vor einer rosigen Zukunft. Im August dürfen die Hessen im europäischen Supercup antreten und sich entweder mit Real Madrid oder dem FC Liverpool messen. Danach steht die Premiere in der Königsklasse an, im Frankfurter Stadion wird tatsächlich die Champions-League-Hymne laufen. Es hat aber auch lange genug gedauert.