Spieler der HSG Wetzlar schauen niedergeschlagen.

Die HSG Wetzlar steht in der Handball-Bundesliga vor dem Schlüsselspiel gegen Minden. Dass die Mittelhessen überhaupt in Abstiegssorgen stecken, liegt an vergessenen Tugenden und der Entfremdung von den Fans.

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Livestream

Handball-Bundesliga live: HSG Wetzlar - GWD Minden

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Es ist fast auf den Tag genau 25 Jahre her, da stiegen die Handballer der HSG Dutenhofen-Münchholzhausen erstmals in die Bundesliga auf. Zwei Dorfvereine, die sich zusammengeschlossen hatten, sorgten Ende der 90er Jahre für legendäre Zeiten. Als Zweitligist zog man in den Europapokal der Pokalsieger ein und erreichte dort sogar das Finale, da war der Aufstieg in die Bundesliga gerade realisiert.

Die Fans standen wie eine Wand hinter der Mannschaft, die enge Sporthalle in Dutenhofen, sie war eine Art Festung. Dort wurde nach Spielende gefeiert, geraucht und bis nachts um drei Uhr Bier getrunken. Und zwar sehr viel. Wer keine Eintrittskarte mehr bekam, weil es keine mehr gab, der ging nach Zahlung von 20 Mark einfach so rein.

Immer wieder schafften es die Wetzlarer - auch als sie sich in den Stadtverein HSG Wetzlar umbenannt hatten -, für Identifikation zu sorgen. Zuerst mit kantigen Eigengewächsen wie Wolfgang Klimpke, Vater des heutigen Wetzlarer Torwarts und Nationalspielers Till Klimpke, später fanden sie Spieler mit enormem Entwicklungspotential wie Markus Baur oder Andreas Wolff und Jannik Kohlbacher. In Wetzlar konnte man zum Nationalspieler reifen oder wie Velimir Petkovic eine Trainerkarriere starten. Hier konnte man Legende werden auf dem Feld oder auf der Trainerbank - so wie Kai Wandschneider in dessen zehn Jahren Amtszeit.

Trainer Velimir Petkovic im Gespräch mit seinem Torwart Waldemar Strzelec

Alle im Verein waren irgendwann erfolgsverwöhnt

Weshalb das so wichtig ist? Weil Wetzlar immer besonders war. Weil der Club es schaffte, sich in der Bundesliga zu etablieren - trotz begrenzter wirtschaftlicher Mittel und manchmal durchaus schlechtem Umgang mit den Finanzen. War es zu Beginn des Vierteljahrhunderts in der Erstklassigkeit oft richtig knapp, so wie zuletzt in der Saison 2007/2008, folgten dann Platzierungen, die herausragend waren. Acht Mal landeten sie in den TopTen der vergangenen zehn Jahre!

Das Fatale: Das Umfeld, die Fans, Sponsoren und auch die Mannschaft, alle gewöhnten sich daran. Sie verlernten das, was eigentlich immer einzukalkulieren war – den Kampf gegen den Abstieg. Oder anders, man wurde verwöhnt.

Deshalb ist die Abstiegsangst in dieser Saison noch lange keine logische Erscheinung. Sie wäre vermeidbar gewesen. Aber der HSG ist es nicht mehr gelungen, Spieler mit Potential zu entdecken oder zu entwickeln, es fehlte in vielen Spielen der Geist, das Aufbäumen.

Das Team verliert die Fans

Dazu und deshalb kommt: Die Fans kehren dem Team den Rücken zu. Der Zuschauerrückgang ist dramatisch und hat natürlich wirtschaftliche Folgen. Im Vergleich zur letzten Saison vor der Corona-Pandemie fehlen den Wetzlarern im Schnitt fast 700 zahlende Zuschauer, das sind auf die Saison gerechnet gut 250.000 Euro. Das ist im Fußball eine Lächerlichkeit, im Handball aber enorm viel.

Doch der sportliche Absturz hatte auch andere Folgen. Till Klimpke verlor seinen sicher geglaubten Platz im WM-Team. Ein Torwart braucht die Unterstützung seiner Abwehr. Sie blieb aus. Doch Klimpke ist abhängig von ihr, denn er ist gut, aber nicht weltklasse. So wie Klimpke als einzig verbliebener Stammspieler der Region diese Unterstützung benötigt, so fehlt dem Team ein Leader. Einer, der voran geht – dazu muss er kein Torschützenkönig sein. Bei der Zusammenstellung eines Kaders gehört der Blick auf die Hierarchie unbedingt dazu, der Einzelne kann in der Bundesliga selten etwas ausrichten. Wetzlar kann nur als Kollektiv erfolgreich sein, aber es ist keines mehr.

HSG Wetzlar

Das Spiel gegen Minden ist eine Chance

Die Fans haben – bei aller Verwöhntheit des letzten Jahrzehnts - ein feines Gespür. Ihnen fehlt Identifikation, nicht nur spielerischer Glanz. Im nahen Umfeld gibt und gab es durchaus junge Spieler mit den Möglichkeiten, diese Lücken zu schließen. In anderen Vereinen, etwa in Hannover, traut man sich, junge Spieler zu entwickeln. Ihnen Verantwortung zu geben. Das ist in Wetzlar abhandengekommen. Die HSG musste fast immer die besten Spieler ziehen lassen, aber derzeit ist nicht erkennbar, wer dafür sorgt, dass die Abgänge kompensiert werden. Es wirkt beliebig, aber nicht geplant. Neue Spieler werden platziert –ob sie passen oder nicht.

Weitere Informationen

Abstiegskrimi im Livestream

Der hr zeigt den Abstiegskrimi Wetzlar - Minden am Samstag ab 18.30 Uhr im Livestream auf hessenschau.de. In der Halbzeitpause blicken wir auf die traditionsreichen Zeiten der HSG zurück.

Ende der weiteren Informationen

Die alten Zeiten sind natürlich vorbei, die Zeiten mit den Leberwurstbroten und dem nicht versiegenden Bier in der Halle in Dutenhofen. Und dennoch kann man sich der positiven Aspekte von einst besinnen, sich der Erfolgstory erinnern. Denn dahinter stecken die Kleinigkeiten, die wichtig sind. Die passen auch in die phantastische Buderus Arena, in der seit Monaten nicht mehr gewonnen wurde.

Nach dem Sieg am letzten Wochenende in Stuttgart, der souverän war, aber auch gegen eine Mannschaft erzielt wurde, die der HSG Wetzlar traditionell liegt, geht es jetzt gegen GWD Minden um enorm viel. Bei einem Erfolg ist der Klassenerhalt zwar längst nicht sicher, aber greifbarer (Hier geht es zur Tabelle). Und es ist die Chance, endlich wieder die Fans zurückzugewinnen. Sie sind das wichtigste Gut. So wie beim Aufstieg vor 25 Jahren.