Eine Altenpflegerin übt mit einer Seniorin in einem Turnraum

Zu wenige Pflegekräfte, zu hohe Ausgaben: In Hessen mussten in den vergangenen zwei Jahren 32 Altenpflegeeinrichtungen schließen - und die Lage könnte sich weiter zuspitzen.

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Altenhilfe vielerorts vor dem Kollaps

Eine Pflegefachkraft geht mit einer Bewohnerin durch ein Seniorenheim. Das Motiv ist von hinten fotografiert.
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Die Zahl der Menschen, die im Alter auf Pflege angewiesen sind, steigt und steigt. In Hessen wuchs der Bedarf zwischen 2019 und 2021 um 19 Prozent, wie aus Statistiken des Landes hervorgeht.

Trotz der großen Nachfrage kämpfen viele Altenhilfe-Träger gerade um ihr wirtschaftliches Überleben. In den vergangenen zwei Jahren mussten, wie eine hr-Recherche ergab, unter allen großen Trägern und Verbänden der Altenhilfe in Hessen mindestens 32 Einrichtungen schließen. Teils weil sie Insolvenz anmelden mussten, teils weil sie nicht genug Personal hatten.

Vor allem private Träger und vor allem der ambulante Bereich waren davon betroffen: In dem Bereich schlossen 26 Einrichtungen, das zeigen Zahlen vom BPA Hessen, dem Branchenverband privater Anbieter sozialer Dienste im Land. Die Zahl könnte noch größer sein, weil nicht alle privaten Dienste Mitglied im BPA sind.

Auch gemeinnützige Träger betroffen

Dazu kommen sechs ambulante Einrichtungen gemeinnütziger Träger, die ihren Dienst einstellten. Betroffen sind die Diakonie, das Deutsche Rote Kreuz (DRK) sowie die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Hessen-Süd, dazu eine Tagespflege vom DRK. Beim Roten Kreuz stehen aktuell zwei weitere ambulante Dienste auf der Kippe - wegen Personalmangels. Eine weitere Tagespflege des DRK konnte nicht einmal den Betrieb aufnehmen, weil sie kein Personal fand.

Welchen Anteil das ausmacht am Gesamtangebot in Hessen, ist schwer zu sagen. Das Landesamt für Gesundheit und Pflege teilt mit: "Belastbare Zahlen zu ambulanten Betreuungs- und Pflegediensten liegen der Betreuungs- und Pflegeaufsicht nicht vor, da keine Anzeigeverpflichtung besteht." Erfasst gewesen seien im März 1.212 Altenhilfe-Einrichtungen, 903 stationäre und 309 teilstationäre. Unter letztere fallen demnach 293 Tageseinrichtungen, 15 Kurzzeitpflegeheime und eine Nachteinrichtung.

Was sich jedoch sagen lässt: Die Verantwortlichen schätzen die Lage so schlimm wie selten ein und blicken mit Bange in die Zukunft.

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Der hr hat für diese Recherche alle großen Träger und Verbände der Altenhilfe in Hessen gefragt: mehrere Caritas- und AWO-Verbände, die Diakonie, das Deutsche Rote Kreuz, den Arbeiter-Samariter-Bund, den Paritätischen Wohlfahrtsverband sowie den Landesverband des Bundesverbands privater Dienste (BPA). 

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"Die Lage gerade ist eine riesige Kraftanstrengung", sagt der Landesgeschäftsführer des Arbeiter Samariter Bundes (ASB), Matz Mattern. Anne Fischer von der Caritas in Fulda gibt Mattern Recht: "Das Problem wächst stündlich." Und Jens Dapper von der AWO in Gießen sagt, so schlimm wie jetzt sei es noch nie gewesen. Seine Einrichtung komme gerade nur wegen der Rücklagen durch, und die schwänden rapide.

BPA Hessen: Pflegelandschaft wird sich deutlich verändern

Die Lage könnte noch schlimmer werden: Mehr als die Hälfte der im BPA organisierten privaten Träger in Hessen sehen die wirtschaftliche Existenz ihrer Pflegeeinrichtung einer verbandweiten Umfrage zufolge "in naher Zukunft gefährdet".

Der Landesvorsitzende des BPA Hessen, Ralf Geisel, warnt: "Ich glaube, dass sich in den nächsten Monaten die Pflegelandschaft deutlich verändern wird. Nicht alle Kollegen werden es schaffen, den Weg weiterzugehen."

Personalmangel führt zu langen Wartelisten

Doch warum ist die Lage gerade jetzt so dramatisch? Gerade der Personalmangel macht den Pflegediensten schwer zu schaffen. Die vom hr angefragten Träger berichten, dass sie zumindest zeitweise die Belegung der Betten einschränken mussten, freigewordene Betten also leer stehen lassen mussten. Das habe auch handfeste finanzielle Folgen gehabt: Einnahmen brechen weg, viele Fixkosten laufen dagegen weiter.

Plan mit Leistungen der ambulanten Pflege mit Post-it "Bitte unterschrieben zurück"

Die Folgen für die Angehörigen seien dramatisch, schildert Sonja Driebold von der Diakonie Hessen: "Menschen mit Hilfsbedarf müssen oft verschiedene Dienste anfragen und lange warten, bis sie eine Versorgung erhalten. Viele Leitungskräfte berichten von vielen Anrufen weinender und wütender Menschen." Nicht alle Hilfe- und Pflegebedürftigen hätten Angehörige, die in Notsituationen einspringen könnten.

Teuerungsrate beim Essen

Zum Personalmangel kommen die allgemeinen Kostensteigerungen hinzu. Allein beim Essen betrügen diese rund 20 Prozent und mehr, schildert der Gießener AWO-Chef Dapper. Die Teuerung könne nicht einfach an die Pflegebedürftigen weitergegeben werden, weil es zuvor Verhandlungen mit den Kassen brauche. Und das könne Monate dauern. Bis dahin müssten die Träger die Preissteigerungen selbst überbrücken. Wer bisher ohnehin eng kalkuliert habe oder nur kleine Rücklagen habe, komme ins Schleudern.

Viele treibt zudem das Thema Leiharbeit um. "Die sollte eigentlich Spitzen abfangen, aber das Verhältnis hat sich umgekehrt. Das ist ein Dauerersatz an vielen Orten", sagt ASB-Geschäfsführer Mattern. Dapper weist auf die hohen Kosten hin: "Eine Leiharbeitskraft kostet uns das Zweieinhalbfache einer regulären Pflegekraft. Aber übernommen werden die Mehrkosten nicht von den Kassen. Darauf bleiben wir sitzen."

Einige Träger fordern deshalb, dass die Leiharbeit in der Pflege reguliert und eingeschränkt werde. Damit würde ein wichtiger Kostentreiber begrenzt.

Folgen des Tariftreuegesetzes

Die privaten Anbieter mussten zudem eine weitere Hürde bewältigen: das Tariftreuegesetz für Pflegekräfte. "Das hat uns erhebliche Kostensteigerungen gebracht", sagt Ralf Geisel vom BPA. Seit September müssen alle Anbieter entweder tarifgebunden sein oder ihre Pflege- und Betreuungskräfte mindestens in Höhe von in der Region anwendbaren Pflege-Tarifverträgen entlohnen. Zuvor haben die meisten von ihnen deutlich weniger gezahlt.

"Es ist auch absolut begrüßenswert, dass man den Pflegekräften jetzt mehr zahlt", sagt Geisel: "Das Problem ist, dass die Kostenträger nicht immer die vollen Steigerungen refinanziert haben." Auch manche Kunden seien abgesprungen, nachdem die Leistungen teurer geworden waren. Verbunden mit den anderen Problemen sei das dann zu viel gewesen, gerade für kleinere Anbieter.

Seit Inkrafttreten des Tariftreuegesetzes am 1. September 2022 gingen nach BPA-Angaben in Hessen 17 Träger der Altenpflege insolvent.  

Hoffen auf die Politik

Die verbliebenen Träger drängen auf schnelles Handeln seitens der Politik. Wichtig wären für viele unbürokratischere finanzielle Hilfen. Es gebe zwar welche, doch zum Teil seien die Formulare extrem aufwendig zu bearbeiten, schildern Verantwortliche von gleich mehreren Trägern dem hr.

Die meisten hoffen außerdem auf Erleichterungen bei der Fachkräfteanwerbung aus dem Ausland. "Die Bürokratie ist in Deutschland wesentlich höher als in anderen Ländern", kritisiert beispielsweise Beate Schywalski vom Caritasverband für die Diözese Mainz, der auch in Teilen Hessens aktiv ist. Bis man eine Fachkraft aus dem Ausland gewonnen habe, dauere es Monate. Und die Kosten für den Aufwand blieben bei den Trägern hängen.

Der BPA-Landesvorsitzende Geisel findet den Umgang Seitens der Politik mit Senioren sehr traurig: "Das sind Menschen, die dazu beigetragen haben, dass wir heute so leben können, wie wir es tun. Aber das Problem wird ignoriert." Ein wichtiger Schritt wäre für ihn, dass das Land Hessen die Investitionskosten in der Altenhilfe übernimmt. Das sei bei Krankenhäusern ja auch der Fall.

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