Veränderungen im Energiesektor Verstaatlichung von Gazprom Germania trifft Kasseler Erdgas-Firmen

Die deutsche Tochter des russischen Gaskonzerns Gazprom wird wegen des Ukraine-Kriegs der Bundesnetzagentur unterstellt. Das betrifft unmittelbar mehrere Kasseler Firmen - sie gehören zum Netz von Gazprom Germania.
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Gaswirtschaft – Sorge um Arbeitsplätze in Nordhessen

In Kassel laufen viele Fäden im deutschen Erdgas-Geschäft zusammen. Der Großproduzent Wintershall Dea hat dort seinen Sitz. Und die Gazprom Germania GmbH wickelt über Kasseler Firmen einen großen Teil ihrer Geschäfte ab. Das geschieht ab sofort unter staatlicher Vormundschaft. Vorläufig bis 30. September wird Gazprom Germania von der Bundesnetzagentur treuhänderisch verwaltet.
Für die betroffenen Firmen heißt das: Sie müssen jetzt den Vorgaben der Bundesbehörde folgen. Auf Anfragen des hr, welche Folgen sie davon erwarten, antworten die meisten einsilbig oder gar nicht. Bei der Wingas GmbH etwa herrscht Schweigen. Sie ist eine 100-prozentige Tochter von Gazprom Germania und wickelt den Handel mit Erdgas ab. Die Wingas-Tochter Astora betreibt Erdgasspeicher, darunter den systemrelevanten Riesenspeicher im niedersächsischen Rehden.
Al-Wazir: Versorgung aktuell gesichert, aber ...
Wie der neue Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, in einem Interview mit dem Handelsblatt angibt, ist der Speicher in Rehden derzeit zu weniger als einem Prozent gefüllt. Warum das nicht frühzeitig bemerkt und verhindert wurde, kann der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir nicht nachvollziehen. "Da frage ich mich schon, wie so etwas eigentlich passieren kann", sagt der Grünen-Politiker. Die Bundesnetzagentur werde nun alles dafür tun, dass so etwas nicht mehr vorkomme, versichert Müller.
Von einem Mangel will Al-Wazir gleichwohl nicht sprechen. Die Versorgung hält der Minister aktuell für gesichert. Nehme man alle Speicher zusammen, seien sie durchschnittlich zu 27 Prozent gefüllt. Und man befinde sich am Ende der Heizperiode.
Im Rückblick hält es Al-Wazir jedoch für einen Fehler, dass wesentliche Teile der kritischen und lebensnotwendigen deutschen Energie-Infrastruktur an Gazprom verkauft wurden. Auch dadurch ergibt sich - neben den immensen Erdgasimporten - eine große Abhängigkeit des deutschen Gas- und Energiesektors von Russland.
Abschied eines Gazprom-Managers
Erdgas wird in großen Fernleitungen über Deutschland verteilt. Auch bei diesem Geschäft mischt Gazprom Germania kräftig mit: über die Kasseler Beteiligungsgesellschaft Wiga Transport. Sie gehört zu fast gleichen Teilen Wintershall Dea und dem deutschen Gazprom-Ableger.
Zur jüngsten Entwicklung teilt Wiga Transport schriftlich lediglich mit: "Über Auswirkungen der angeordneten Einsetzung der Bundesnetzagentur als Treuhänderin für die Gazprom Germania GmbH können wir zum jetzigen Zeitpunkt keine Aussage treffen." Eine Personalie, die mutmaßlich mit den Veränderungen auf dem deutschen Erdgas-Markt zu tun hat, bestätigt die Firma freilich: Gennady Ryndin, der dem Gazprom-Imperium über viele Jahre in diversen Funktionen in Kassel gedient hat, sei "als Geschäftsführer der Wiga Transport zurückgetreten".

Anders als die Wiga kommuniziert deren Tochtergesellschaft Gascade ganz offen. Der Gas-Transporteur, ebenfalls mit Sitz in Kassel, betreibt unter anderem die durch Hessen führende Fernleitung namens Midal. "Wir sind von der Treuhandverwaltung der Gazprom Germania durch die Bundesnetzagentur überrascht worden", sagt Gascade-Sprecherin Nicola Regensburger. Sie gehe aber davon aus, "dass sich für uns im Augenblick nichts ändert und wir unser Geschäft ganz normal weiterführen können".
Bundesnetzagentur will Versorgung sicherstellen
Genau das ist das erklärte Ziel von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der Gazprom Germania vorübergehend der Bundesnetzagentur unterstellte. Der russische Mutterkonzern hatte seinen Rückzug aus dem Deutschlandgeschäft angekündigt und wollte die Anteile obskuren russischen Gesellschaften übertragen. Die Profiteure wären im Dunklen geblieben.
Doch der windige Deal, an dessen Ende die Liquidierung von Gazprom Germania stehen sollte, bedurfte der Zustimmung aus Berlin. Das eröffnete der Bundesregierung die Chance, den Deutschland-Ableger juristisch sauber aus der russischen Umklammerung zu lösen.
Die Bundesnetzagentur teilte auf hr-Anfrage mit: "Unser Ziel wird es sein, dass Gazprom Germania im Interesse Deutschlands und Europas geführt wird. Wir wollen alle notwendigen Schritte unternehmen, um die Versorgungssicherheit weiter zu gewährleisten."
Verluste für Wintershall
Der deutsche Energiekonzern Wintershall Dea ist von Habecks Gazprom-Coup nicht unmittelbar betroffen. Allerdings pflegt er seit mehr als 30 Jahren Geschäfte mit dem Land der Kriegstreiber, betreibt Joint Ventures mit Gazprom und Gasfelder in Russland. Entsprechend geschockt gibt man sich vom Angriffskrieg gegen die Ukraine: "Das ist ein Wendepunkt. Was jetzt passiert, erschüttert das Fundament unserer Zusammenarbeit."

Neue Projekte in Russland will Wintershall nicht weiter verfolgen. Die Darlehen an die Gas-Pipeline Nord Stream 2, die wohl nie in Betrieb gehen wird, in Höhe von mehr als 700 Millionen Euro hat der Kasseler Konzern bereits abgeschrieben. An den Anteilen am Gasnetzbetreiber Gascade will Wintershall festhalten.
Inwiefern deutsche Kunden wie gewohnt mit Erdgas beliefert werden, liegt aber letztlich nicht in der Hand der Bundesnetzagentur. Da machen sich regionale Gasversorger nichts vor. Die Maingau Energie GmbH, deren Gasnetz im Kreis Offenbach aus der Midal-Leitung von Gascade gespeist wird, legt in ihrer Antwort auf eine hr-Anfrage den Finger in die Wunde: "Entscheidend ist, inwieweit der Gasfluss aus Russland gegeben ist."
Merck warnt vor Gasmangel
Bei Großabnehmern ist die Stimmung entsprechend. "Wir nehmen das sehr, sehr ernst", sagt Matthias Bürk, der den Heimatstandort von Merck in Darmstadt leitet. Für seine Produktionsanlagen und Bürogebäude verbraucht der Pharmakonzern pro Jahr etwa so viel Erdgas wie alle angeschlossenen Haushalte der Stadt mit ihren mehr als 160.000 Einwohnern zusammen. Bürk sagt: "Ein langfristiger Mangel an Gas kann dazu führen, dass wir Patienten nicht mehr mit notwendigen Medikamenten und Impfstoffhersteller nicht mehr mit wichtigen Ausgangsstoffen versorgen können."
Bleibt der Brennstoff aus, greift bei Merck in Darmstadt ein Notfallplan. Russlands Präsident Wladimir Putin hat für Berlins Schachzug bei Gazprom Germania bereits Vergeltungsmaßnahmen angedroht.
Zugleich fordern viele in Deutschland einen Stopp der Gas-Importe aus Russland in der Hoffnung, dass dem Autokraten im Kreml dann das Geld für den Krieg in der Ukraine ausgeht. Klar ist aber auch: Ohne russisches Gas wird es Notfallpläne in vielen Bereichen brauchen. Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir ruft Unternehmen und Privathaushalte daher als unmittelbare Maßnahme zum Energiesparen auf.