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2020 knapp 3.000 Verurteilungen wegen Paragraf 265a StGB in Hessen

Wartende Fahrgäste vor losfahrender U-Bahn an der Station Konstablerwache.

Schwarzfahren als Straftat: Wie verhältnismäßig, sozialverträglich und auch ökonomisch ist dieser Paragraf 265a, der das Fahren ohne Ticket im ungünstigsten Fall im Gefängnis enden lässt? Hessen kostet das Gesetz aus dem Jahr 1935 viel Geld.

Wer mit der S-Bahn vom Frankfurter Hauptbahnhof zur Hauptwache fahren möchte, muss einen Kurzstrecken-Tarif von 1,50 Euro bezahlen. Die normale Einzelfahrt kostet 2,75 Euro, eine Tageskarte für das Stadtgebiet Frankfurt 5,35 Euro. Preise, die sich nicht alle leisten können - oder wollen. Wer deswegen ohne Fahrschein fährt, begeht eine Straftat und keine Ordnungswidrigkeit und riskiert unter Umständen eine Gefängnisstrafe.

Jedes Jahr betreffe das tausende Menschen in Deutschland, kritisierte jüngst Moderator Jan Böhmermann im "ZDF Magazin Royale". Die Verurteilten würden damit gleichgesetzt mit Menschen, die wegen Raubs, Mordes oder Totschlags im Gefängnis säßen.

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Bis zu 37.000 Euro Gefängniskosten - pro Tag

In Hessen wurden im vergangenen Jahr nach Angaben des Justizministeriums 3.019 Menschen wegen des entsprechenden Paragrafen 265a im Strafgesetzbuch, dem "Erschleichen von Leistungen", verurteilt. Die allermeisten davon wegen Schwarzfahrens. 2.816 von ihnen mussten eine Geldstrafe zahlen, 203 wurden mit "sonstigen Strafen" belegt - darunter fallen Freiheitsstrafen, aber beispielsweise auch Verurteilungen nach Jugendstrafrecht.

Wie viele Menschen tatsächlich im Gefängnis landeten, sei statistisch nicht erhoben, so das Ministerium. Auch die genaue Höhe der verhängten Geldstrafen ist nicht bekannt. Die Kosten für einen Tag im Gefängnis beliefen sich 2020 laut Behörde indes auf 181,47 Euro.

Verurteilungen treffen hauptsächlich Ärmere

Seinen Ursprung hat Paragraf 265a in der NS-Zeit, wie das Bundesjustizministerium auf Nachfrage bestätigt: Demnach habe damals der Missbrauch eines Münzfernsprechers strafrechtlich nicht verfolgt werden können, weil kein "Täuschungsadressat" vorgelegen habe. Schließlich war der "Getäuschte" in diesem Fall eine Maschine. Als Folge wurde 1935 Paragraf 265a erlassen.

Heute betroffen von Haftstrafen durch das Erschleichen von Leistungen sind vor allem arme Menschen. Zwar werden mehrheitlich Geldstrafen erteilt mit der Möglichkeit, diese abzuarbeiten, etwa durch Sozialstunden. Das sei aber beispielsweise Obdachlosen oder Suchtkranken oftmals nicht möglich - und es komme schließlich doch zu einer Haftstrafe, einer sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe, so auch die Böhmermann-Kritik.

Laut Hessischem Richterbund seien "durchaus Fälle vorstellbar, in denen der Strafrahmen ausgeschöpft und eine Freiheitsstrafe verhängt werden könnte", beispielsweise bei hartnäckigen Wiederholungstätern.

Projekt bemüht sich um Alternativen zur Haftstrafe

Um diese Ersatzfreiheitsstrafen zu vermeiden, verfolgt das hessische Justizministerium seit 2009 mit dem Projekt "Auftrag ohne Antrag" das Ziel, Betroffenen stattdessen etwa gemeinnützige Arbeit oder Ratenzahlungen anzubieten. Reagiert ein Verurteilter nicht auf Schreiben oder Zahlungsaufforderungen, wird ein freier Projektträger tätig, um dem Betroffenen anderweitige Maßnahmen vorzuschlagen. Der Verurteilte muss dafür keinen Antrag stellen - daher der Name der Initiative.

Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann bei einer Pressekonferenz

2020 konnten dadurch laut Jahresbericht rund 3,7 Millionen Euro Haftkosten eingespart werden. Von insgesamt 89.481 Tagen, die als Ersatzfreiheitsstrafe für nichtgezahlte Geldstrafen vollstreckt wurden - nicht nur wegen des Erschleichens von Leistungen - konnten 20.739 Tage durch "Auftrag ohne Antrag" abgewendet werden. Für Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) ist das eine "Win-Win-Situation".

Justizministerium will an Paragraf festhalten

Für das Justizministerium ist diese enge Betreuung "ein wichtiger Beitrag dazu, den Menschen eine Struktur im Leben zu geben und auch zukünftig straffrei zu bleiben". Durch eine Entkriminalisierung des Paragrafen 265a falle diese Möglichkeit weg.

Kühne-Hörmanns Ministerium sieht unter anderem deshalb keinen Bedarf, den umstrittenen Paragrafen zu überarbeiten und verweist auch auf einen Bericht aus dem Jahr 2019: Eine vom Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz eingesetzte Arbeitsgruppe habe sich damals mehrheitlich dagegen ausgesprochen.

Weitere Informationen

Straftat oder Ordnungswidrigkeit?

Während Straftaten mit einer Geld- oder einer Freiheitsstrafe geahndet werden können, ziehen Ordnungswidrigkeiten grundsätzlich Geldbußen gemäß eines Bußgeldkatalogs nach sich. Dafür ist jeweils eine entsprechende Behörde zuständig. Eine Strafe dagegen kann nur von einem Gericht festgesetzt werden. Die Verjährungsfristen von Straftaten sind deutlich länger als bei Ordnungswidrigkeiten.

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Der Koalitionspartner im Landtag sieht das durchaus ein wenig kritischer. "Alles, was nicht zum Kernbereich des Strafrechts gehört, kann auch als Ordnungswidrigkeit sanktioniert werden", sagt die rechtspolitische Grünen-Sprecherin Hildegard Förster-Heldmann: "Dazu gehört auch das sogenannte Schwarzfahren." Bereits 2018 reichten Grüne und Linke auf Bundesebene Gesetzentwürfe ein, nach denen Fahren ohne Fahrschein keine Straftat mehr sein sollte.

Sozialschädlich und unerträglich

Schwarzfahren sei in hohem Maße sozialschädlich, weil den Verkehrsbetrieben dadurch jedes Jahr große Summen verloren gingen, hält das Justizministerium dagegen und beruft sich auch auf die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Richter hatten in punto Strafrecht festgehalten, dass ein Verhalten in besonderem Umfang "sozialschädlich" und "für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich" sein müsse.

Ein RMV Fahrkartenautomat

Nach Schätzung des Verbands Deutscher Verkehrsbetriebe (VDV) beläuft sich der bundesweite Gesamtschaden durch Schwarzfahrer auf jährlich circa 250 Millionen Euro. Der Rhein-Main-Verkehrsbund (RMV) geht davon aus, dass im Verkehrsgebiet rund fünf Prozent der Fahrgäste ohne gültige Fahrkarte unterwegs sind. Das bedeute Einnahmenverluste von rund 40 Millionen Euro.

Dem Ministerium zufolge träfen die Verluste letztlich auch die Allgemeinheit, etwa weil deshalb eine Subventionierung nötig werde oder eine Erhöhung der Ticketpreise. Eine Rückstufung zur Ordnungswidrigkeit würde die "Bagatellisierung des Schwarzfahrens in der Bevölkerung befördern". Die Folge wären noch höhere wirtschaftliche Schäden.

Linke plädiert für kostenlose Tickets

Doch auch auf Bundesebene könnte es demnächst zu neuen Diskussionen über Paragraf 265a kommen. Da die neue Regierung in ihrem Koalitionsvertrag einen Fokus auf die Modernisierung des Strafrechts und die Entlastung der Justiz lege, spräche vieles dafür, die "immer wieder aufflammende Diskussion über die Entkriminalisierung dieses Deliktes wieder aufzugreifen", so die hessische Grünen-Abgeordnete Förster-Heldmann.

Unterstützung kommt auch von FDP und Linken. "Wir brauchen einen massiven Ausbau des Angebots und eine Senkung der Preise hin zum ticketfreien Nahverkehr", so ein Sprecher der hessischen Linken-Fraktion. Dadurch erledige sich auch das Problem des Schwarzfahrens. Die AfD im Landtag sieht eine Herabstufung des Paragrafen 265a indes kritisch, das sich dieser nicht nur auf das Schwarzfahren beziehe. Fahren ohne Fahrschein werde "schon als weniger 'kriminell' durch die deutlich niedrigere Strafandrohung eingestuft", so ein Sprecher.

Preise für Sozialtickets variieren

Um Sozialhilfeberechtigte und Geringverdiener zu entlasten, bieten Verkehrsverbünde und Kommunen derzeit ermäßigte Tickets an. Die Preise dafür variieren allerdings stark. In Kassel wird das "Mittendrin-Ticket" von der Stadt bezuschusst und kostet Berechtigte 35 Euro im Monat - also weniger als der Satz von 40,01 Euro, den Hartz IV-Empfänger derzeit monatlich für Verkehrsmittel erhalten. Im RMV-Gebiet fördert etwa die Stadt Darmstadt das Sozialticket ab kommenden Jahr mit 50 statt bislang 33 Prozent; es kostet ab Juli 2022 im gesamten Stadtgebiet noch maximal 40 Euro im Monat.

Eine Straßenbahn fährt durch die weihnachtlich geschmückte Innenstadt von Kassel.

In Frankfurt dagegen kostet ein Sozialticket im Jahresabo monatlich 56,10 Euro - und damit deutlich mehr, als der Regelsatz für Hartz IV-Empfängerinnen und -Empfänger vorsieht. Die neue Stadtregierung prüfe derzeit aber, wie Inhaberinnen und Inhabern des sogenannten Frankfurt-Passes, an den das Sozialticket gekoppelt ist, eine kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs in Frankfurt ermöglicht werden kann, gibt das Sozialdezernat an.

Richterbund sieht Verkehrsverbünde in der Pflicht

Der Hessische Richterbund ist derweil der Auffassung, Schwarzfahren müsse auch künftig strafrechtlich sanktioniert werden. Die in Paragraf 265a geregelte "Beförderungserschleichung" solle aber eingeschränkt und daran geknüpft werden, ob Zugangsbarrieren oder -kontrollen überwunden oder umgangen wurden.

"Aus unserer Sicht ist nicht strafwürdig, wer lediglich eine Beförderungsleistung in Anspruch nimmt, ohne eine Täuschung zu begehen oder einen Schutz gegen Schwarzfahren aktiv zu unterlaufen", findet Landessprecherin Christine Schröder. Dafür müsse in der Sanktionierung nicht "auf das Strafrecht als Ultima Ratio zurückgegriffen werden". Um Fahren ohne Fahrschein zu verhindern, sieht sie die Verkehrsunternehmen in der Pflicht. Sie müssten beispielsweise Zugangskontrollen ergreifen.