"System vor dem Kollabieren" Bildungsalarm: 41 Grundschulen stellen Überlastungsanzeige
Zu viele Aufgaben, wachsende Herausforderungen und zu wenige qualifizierte Lehrkräfte: In Wiesbaden und im Rheingau-Taunus-Kreis haben jetzt 41 Grundschulen eine sogenannte Überlastungsanzeige gestellt.
Katja Giesler ist Grundschullehrerin an der Geschwister-Scholl-Grundschule in Wiesbaden. Sie fasst die schwierige Lage von Lehrkräften an hessischen Grundschulen zusammen: "Wir können nicht mehr - in unserem Aufgabenfeld, in unserem Beruf. Wir sind komplett überlastet."
Jeden Tag würden sie aufs Neue versuchen, mit den Kindern zu arbeiten, fit und ausgeruht die Fülle an Aufgaben zu bewältigen. "Aber es ist einfach nicht stemmbar", sagt sie.
41 von 66 Grundschulen haben unterschrieben
Als Personalrätin der Geschwister-Scholl-Schule hat Katja Giesler deshalb vor einigen Monaten eine sogenannte Überlastungsanzeige angestoßen. Am Mittwochabend hat sie diese beim zuständigen Schulamt in Wiesbaden und im Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen abgegeben.
Unterschrieben haben sie 41 von insgesamt 66 Grundschulen im Schulamtsbezirk Wiesbaden und Rheingau-Taunus-Kreis. So viele wie noch nie auf einmal. Es hat jeweils das gesamte Kollegium zugestimmt.
Lange Liste mit Kritikpunkten
Die Belastungsanzeige begründen die unterzeichnenden Schulen unter anderem so: Die Überlastung der Lehrkräfte gefährdet die Bildungsqualität, führt zu mehr Krankheitstagen und macht den Beruf unattraktiv für Nachwuchskräfte.
Katja Giesler sagt, die Sammelanzeige zeige, dass die Überlastung nicht das Problem einzelner Schulen sei. Es handele sich um ein strukturelles Problem, das die Politik nicht angehen würde. Ohne strukturelle Verbesserungen im hessischen Schulsystem sei keine nachhaltige Entlastung zu erwarten.
Konkret kritisieren die 41 Schulen unter anderem die folgenden Punkte:
- Einen erheblichen Mangel an (qualifizierten) Lehrkräften, dafür gibt es mehr Vertretungskräfte ohne pädagogische Ausbildung, die nur begrenzt einsetzbar sind
- Stetige Zunahme an Verwaltungs-Aufgaben, gleichzeitig aber immer mehr Schülerinnen und Schüler mit psychischen Belastungen oder Förderbedarf
- Langwierige Einstellungsprozesse
- Ein zu hohes Arbeitspensum
- Zu große Klassen
- Unzureichende Räume und Gebäude für Ganztagsschulen
Am Ende bleibe zu wenig Zeit für die pädagogische Arbeit, wie zum Beispiel den Kindern das Lesen beizubringen, sagt Katja Giesler. "Es ist ehrlich gesagt einfach nur frustrierend." Auch weil einige Grundschulen bereits immer wieder Überlastungsanzeigen gestellt hätten, darunter ihre eigene.
Die Angebote vom Schulamt haben laut Giesler keinerlei Entlastung gebracht. Was das mit den Lehrkräften macht, erklärt Verena Kurtenbach, die ebenfalls an der Geschwister-Scholl-Grundschule unterrichtet. Sie hat gemeinsam mit Katja Gießler die Überlastungsanzeige vorangebracht.
"Man stößt immer wieder an seine Grenzen, weil einfach die Aufgaben immer weiter steigen", sagt Kurtenbach. Der Kopf sei nie still. "Man liebt seinen Job, aber man ist auch einfach so überlastet, dass man sich fragt: Wie kriege ich das alles unter einen Hut?"
Seiteneinsteiger sind kein adäquater Ersatz
Auch die aus Mangel an qualifizierten Lehrkräften vor allem in den Grundschulen häufig eingesetzten Seiteneinsteiger können da keine Abhilfe schaffen. Für sie gibt es keinerlei Voraussetzungen, außer einem polizeilichen Führungszeugnis. Sie müssen vom Kollegium eingearbeitet werden, Fortbildungen gibt es keine. Oftmals haben sie keine pädagogische Ausbildung.
An der Geschwister-Scholl-Grundschule, an der Katja Giesler unterrichtet, sind von 33 Lehrkräften sechs ohne pädagogische Ausbildung. Wie viele es an den insgesamt 66 Grundschulen in Wiesbaden und dem Rheingau-Taunus-Kreis sind, kann oder will das Kultusministerium nicht sagen.
Nach Informationen der Online-Plattform "FragDenStaat" sind es in manchen Grundschulen in Schulamtsbezirk Wiesbaden und Rheingau-Taunus-Kreis bis zu 35 Prozent. Am häufigsten werden Vertretungskräfte ohne pädagogische Qualifizierung an Grundschulen eingesetzt.
Quereinstieg ist vereinfacht worden
Neben Seiteneinsteigern gibt es noch die sogenannten Quereinsteiger. Die werden in Hessen über die hessische Lehrkräfteakademie qualifiziert. Hessen hat den Quereinstieg für Akademikerinnen und Akademiker im letzten Jahr erheblich vereinfacht.
Es braucht ein abgeschlossenes Hochschulstudium und ein Fach, also zum Beispiel Mathe oder Deutsch, aus dem ein Unterrichtsfach abgeleitet werden kann. Außerdem benötigen die Quereinsteiger Berufserfahrung.
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Lehrerin: "Wenn sich jetzt nichts tut, wird das System kollabieren"
Es gibt viele Baustellen in den Grundschulen, bestätigt auch Nicole Grünewald-Zimmermann. Sie ist seit 30 Jahren Lehrerin, unterrichtet aktuell an der Joseph-von-Eichendorf-Schule in Wiesbaden. Auch sie hat die Anzeige unterschrieben: "Ich bin sicher: Wenn sich jetzt nichts tut, wird das System kollabieren."
Grünewald-Zimmermann macht ihren Job gerne - aber nur mit einer halben Stelle. Eine volle Stelle auszufüllen, ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen in Kauf zu nehmen, sei fast unmöglich: "Die Schulleitung ist überlastet, die Schulsekretärin ist überlastet, die Kinder sind überlastet. Es geht ihnen immer schlechter."
Durch die Sammelanzeige hoffen die Grundschulen in Wiesbaden und dem Rheingau-Taunus-Kreis, dass sich endlich etwas ändert.
Minister: "Überlastungsanzeigen werden ernst genommen"
Vom Kultusminister gibt es bisher nur ein knappes schriftliches Statement: "Überlastungsanzeigen werden von uns sehr ernst genommen und von den jeweiligen Staatlichen Schulämtern vor Ort genau geprüft, um den jeweils genauen Sachverhalt zu ermitteln." Diese Prüfung werde jetzt durch das Staatliche Schulamt stattfinden. Ob daraus dann Maßnahmen entstehen, die wirklich Abhilfe schaffen, muss sich zeigen.