Drei Menschen, einer davon im Rollstuhl, stehen vor Stellwänden in einem Büro und schauen auf viele Zettel, die an den Wänden hängen.

Die Lebenshilfe hat in Marburg ein hessenweit einzigartiges Inklusionsprojekt vorgestellt. Sie lässt an einer Fachschule für Sozialwesen sechs Männer und Frauen zu Lehrkräften weiterbilden. Das Besondere: Alle sechs haben kognitive Einschränkungen. Gerade davon sollen ihre späteren Schüler profitieren.

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Co-Lehrer mit geistiger Beeinträchtigung

hs 16.03.2023
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Was sind die Aufgaben eines Lehrers? Wie muss man vor einer Schulklasse auftreten? Und wie sieht eigentlich guter Unterricht aus? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich Marcel Agirman aus Pohlheim (Gießen) seit sechs Wochen beruflich. "Ich habe zum Beispiel schon das freie Sprechen gelernt", sagt der 27-Jährige. "Die Aufregung, die ich am Anfang hatte – die ist jetzt weg."

Agirman ist einer von sechs geistig behinderten Menschen, die vom Lebenshilfewerk Marburg-Biedenkopf für ein Projekt ausgewählt wurden, das es so bislang im hessischen Bildungswesen noch nicht gab. An der Schule für Sozialwesen der Lebenshilfe werden die Teilnehmer zu sogenannten "Co-Referenten" weitergebildet. Sie sollen zukünftig selbst als Lehrkräfte arbeiten und Auszubildende unterrichten. Und zwar im Fachbereich Heilerziehungspflege.

Lebenserfahrung behinderter Menschen einbringen

"Der Job von Heilerziehungspflegern ist es, sich um Menschen mit Behinderung zu kümmern und sie auf ihren Lebenswegen zu begleiten", erklärt Naomi Cloarec, die das Projekt leitet und selbst Heilerziehungspflegerin ist. "Wer könnte da ein besserer Experte sein als Menschen, die selbst eine Behinderung haben?". Ziel sei es, die Lebenserfahrung behinderter Menschen in die praktische Ausbildung einzubringen.

Das Pilotprojekt soll die angehenden "Co-Referenten" außerdem fit machen für den Arbeitsmarkt. Dort ist es für Menschen mit Behinderung erfahrungsgemäß äußert schwer, Fuß zu fassen. "Für die Teilnehmer ist das Projekt eine Chance, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und ihr eigenes Geld zu verdienen. Sozialversicherungspflichtig – und nicht nur ein Taschengeld wie in der Behindertenwerkstatt", sagt Projektleiterin Cloarec.

"Der Weg raus aus der Behindertenwerkstatt"

2021 empfingen in Hessen laut dem Statistischen Landesamt 17.285 Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung eine Eingliederungshilfe, die sie für berufliche Tätigkeiten qualifizieren soll. Aber: Nur 120 waren bei privaten oder öffentlichen Arbeitgebern beschäftigt – der Rest in Behindertenwerkstätten. Deshalb versuchen soziale Träger immer wieder, diese Menschen in reguläre Jobs zu bringen – zum Beispiel der Sozialarbeitsverein Internationaler Bund (IB) in der Wetterau.

Für Marcel Agirman ist die Weiterbildung zum Co-Referenten der "Weg raus aus der Behindertenwerkstatt", so sagt er es. Perspektivisch sollen er und die anderen Kursteilnehmer ihren Unterricht frei anbieten können – etwa an Universitäten oder in Kirchengemeinden – und damit ihren Unterhalt verdienen. "Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg", mahnt Kursleiterin Cloarec.

Spezial-Weiterbildung dauert fünf Jahre

Noch arbeiten die Projektteilnehmer alle in ihren alten Jobs. Fünf Jahre lang dauert ihre Spezial-Weiterbildung an der Schule für Sozialwesen in Marburg. Einmal in der Woche treffen sie sich dort. Neben dem pädagogischen Handwerkszeug lernen sie auch die theoretische Grundlage rund um Themen wie Behinderung und Teilhabe – zum Beispiel, wie man Diskriminierung definiert.

"Mir ist es wichtig zu zeigen, dass wir nicht dumm oder blöd sind, sondern dass wir auch etwas können und auch etwas im Kopf haben", sagt die 47-jährige Marburgerin Manuela Stock über ihre Teilnahme. Kurskollege Agirman sagt, er wolle Berührungsängste abbauen und den angehenden Heilerziehungspflegern zeigen, "dass man einen Menschen mit Behinderung auch ganz normal behandeln kann."

Nachahmer willkommen

Die "Aktion Mensch" unterstützt das Inklusionsprojekt finanziell. Ob es nach den fünf Jahren weitergeht – das ist laut den Verantwortlichen noch nicht absehbar. Sie lassen ihre Arbeit mit den angehenden Co-Referenten wissenschaftlich begleiten und haben dafür die Universität Siegen gewinnen können. Die Zusammenarbeit soll das Vorhaben deutschlandweit bekannt machen – und zur Nachahmung motivieren. 

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