Jubiläum der Weltkunstschau in Kassel 7.000 Eichen, 1.000 Chinesen und ein Holzturm: Die documenta wird 70

Die documenta gilt als eine der weltweit wichtigsten Kunstausstellungen der Gegenwart. Mit beeindruckenden Werken, durchschlagenden Debatten und einem Skandal hat sie in den vergangenen Jahrzehnten eine gewaltige Entwicklung hingelegt. Ein Rückblick.

Collage. Zwei Frauen und ein Mann ausgeschnitten mit farbigen Schatten vor der Aussenansicht eines historischen Gebaeudes mit Saeulen.
Ob Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, Geschäftsführer Andreas Hoffmann oder Besucherin Renate Petzinger: In Kassel verbindet nahezu jeder eigene Erinnerungen mit der Weltkunstschau documenta. Bild © hr, Imago Images, Collage hessenschau.de

Renate Petzinger joggt im Jahr 1977 durch die Kasseler Karlsaue. Es steht dichter Morgennebel im Park, als mitten auf der Wiese plötzlich ein überdimensionales Papierschiffchen auftaucht: das "Traumschiff Tante Olga". Ein Kunstwerk der documenta6. "Das war so bezaubernd", schwärmt Petzinger noch heute. "Das war für mich die absolute Poesie."

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Aber auch andere Kunstwerke wie der Basalthaufen von Joseph Beuys und die mit Tinte und Schulbänken dargestellten Kinderalbträume von Rebecca Horn haben sich in die Erinnerung der 82-jährigen Kasselerin eingeprägt. 70 Jahre documenta-Geschichte haben Spuren in ihr und ihrer Heimatstadt hinterlassen.

Beuys Basaltsteine
Der Künstler Joseph Beuys (1921-1986) vor seinen "7.000 Eichen"-Basaltsteinen. Bild © picture-alliance/dpa (Archiv)

Kandinsky, Klee, Picasso – direkt neben der Bundesgartenschau

Ursprünglich als Begleitausstellung zur Bundesgartenschau wurde die documenta 1955 von Arnold Bode gegründet. In einer durch den Krieg zerbombten Stadt zeigte sie Werke von großen Künstlern der Nachkriegszeit – etwa von Picasso, Kandinsky und Klee – und brachte gleichzeitig neue Farbe in die Ruinen.

"Der Unterschied zwischen der documenta und den anderen Ausstellungen der Zeit war das Gefühl der Dringlichkeit", sagt Carolyn Christov-Bakargiev, die Kuratorin der documenta13 im Rückblick. Diese Dringlichkeit der Kunst sei nach dem Leid des zweiten Weltkrieges besonders hoch gewesen.

Museum Fridericianum mit Schriftzug der ersten Documenta (1955)
Museum Fridericianum mit Schriftzug der ersten Documenta (1955) Bild © documenta archiv / Günther Becker

Arnold Bode als Vater der documenta

Bode habe das erkannt, sagt Christov-Bakargiev. Von Beginn an hatte der Sozialdemokrat, der von den Nationalsozialisten mit einem Berufsverbot belegt worden war, die Ausstellung als international angelegt. Dass an seiner Seite unter den ersten documenta-Verantwortlichen zahlreiche NSDAP-Mitglieder gewesen sind, sollte sich erst Jahrzehnte später zeigen.

Doch Bode war es, der die ersten vier Ausgaben der Weltkunstschau leitete, bis ins Jahr 1968. In seiner letzten berücksichtigt er auch abstraktere Kunstformen, wie Pop-Art oder Minimalismus. Die Begeisterung der Bevölkerung war damals noch begrenzt.

Eine Briefmarke mit dem Konterfei von Bode klebt auf einem Brief
Zu seinem 100. Geburtstag 2000 wurde Arnold Bode mit einer Briefmarke gewürdigt. Bild © picture-alliance/dpa (Archiv)

7.000 Eichen, 1.000 Chinesen und ein Holzturm

Das änderte sich mit der Zeit. Auch weil die documenta in Kassel immer wieder in den öffentlichen Raum eingriff. Auf der documenta7 etwa pflanzte Joseph Beuys 7.000 Eichen, die bis heute im ganzen Stadtgebiet verteilt sind. Auch der chinesische Künstler Ai Weiwei hat sich in das Gedächtnis der Stadt gebrannt.

Er flog nicht nur 1.000 Chinesen nach Kassel ein, sondern baute auch einen Holz-Turm aus ausrangierten Türen, der schon vier Tage nach Eröffnung der documenta12 in sich zusammenstürzte. "Der Preis hat sich soeben verdoppelt", kommentierte er damals trocken mit Blick auf einen möglichen Verkauf des Werkes.

 Der Chinese Ai Weiwei (M) steht am Auepavillion in Kassel vor seinem zerstörten Kunstwerk "Template" (Archivfoto vom 20.06.2007). Am Sonntag (23.09.) endet nach 100 Tagen die documenta. Trotz zum Teil heftiger Kritik der Kunstszene wird die 12. Auflage der Weltkunstausstellung einen Besucherrekord erzielen.
Ein kurzes Vergnügen: Der zusammengestürzte Turm von Ai Weiwei aus chinesischen Türen, die dem Bauboom zum Opfer fielen. Bild © picture-alliance/dpa

Kunstliebhaber leben in Kassel – dank documenta

Renate Petzinger schätzt diese Offenheit der Stadt gegenüber der Weltkunst: "Ich lebe hier ungeheuer gerne, weil ich mit ganz vielen Menschen aus unterschiedlichsten Lebensperspektiven immer Gespräche über Kunst anfangen kann", sagt sie.

Als sie in den 1970er Jahren nach Kassel kam, sei die documenta noch ein geschlossener Fremdkörper gewesen. Doch durch das Einbeziehen der Öffentlichkeit, schaffte die Ausstellung es, sich Stück für Stück zu öffnen. Das ist auch den künstlerischen Leitungen zu verdanken.

Vor einem großen Gebäude mit Glasfassade steht eine Menschenschlange
Großes Interesse gab es an der Vorstellung des kuratorischen Konzepts für die documenta 16. Bild © Stefanie Küster (hr)

Von Wüste bis Nordpol: Kunstschaffende aus aller Welt

Die inzwischen 67-jährige Carolyn Christov-Bakargiev hat das "Fühlen" als wichtigste Prämisse der documenta13 übernommen, um die Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt bei der Ausstellung zusammenzuführen.

Sie fand Kunstschaffende am Nordpol und in der Wüste und brachte die Ausstellung erstmals in vier Ländern zugleich. "Es gab ab den 1990er Jahren die Bewegung, die Ausstellung zu dezentralisieren", erklärt sie diesen Prozess der Internationalisierung.

Die Kuratoren von Ruangrupa haben diese Bewegung bei der letzten documenta15 einfach umgedreht. Die Idee: "Wir können auch die ganze Welt bei der documenta in Kassel haben."

Die Fassade des "ruruHauses" ist bemalt, hier arbeitet das Künstlerkollektivg Ruangrupa
Das "ruruHaus" in der Kassseler Innenstadt war ein Zentrum der umstrittenen documenta15. Bild © picture-alliance/dpa

Geschäftsführer Hoffmann: "Die documenta hat am Abgrund gestanden"

Eine Entscheidung, die in einem beispiellosen Skandal in der Geschichte der documenta endet. Unter anderem war unter Ruangrupas künstlerischer Leitung ein klar antisemitisches Bild von einem stilisierten Juden mit blutunterlaufenen Augen, Reißzähnen und SS-Runen am Hut in Kassels Innenstadt aufgehängt worden.

Nach vielfacher Kritik hatte die documenta das Kunstwerk dann verhüllt, abgehängt und eine differenzierte Aufarbeitung versprochen. "Die documenta hat am Abgrund gestanden und ist danach durch ein langes, tiefes Tal gegangen", sagt der heutige Geschäftsführer Andreas Hoffmann rückblickend.

Documenta Kunstwerk wird abgehängt
Das umstrittene Kunstwerk "People's Justice" wurde erst nach massiven Protesten abgehängt. Bild © IMAGO / Hartenfelser

Rollenteilung soll zukünftige Skandale verhindern

In Zukunft erlaube es eine neue Rollenteilung der Kuratorin und der Geschäftsführung, gegen Antisemitismus, Rassismus und anderer gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorzugehen. Alles, was im Rahmen der Gesetze erlaubt sei, könne aber weiterhin auf der documenta16 präsentiert werden, sagt Hoffmann.

Er glaubt dabei an ein Erfolgsformat: "Die Wahrnehmung einer documenta ist sehr von einer künstlerischen Leitung geprägt", erklärt er. Die Ausstellung sei dadurch auch immer ein "Seismograf zentraler Diskurse der Gegenwart" gewesen. Die neue Kuratorin Naomi Beckwith habe einen Stimmungswechsel hervorgerufen. Viele Kritiker seien schon jetzt begeistert und freuten sich auf das Jahr 2027.

Weitere Informationen

Das Jubiläum in Kassel

Zum Jubiläum lädt die documenta dieses Jahr zu Ausstellungen, Talk- und Vortragsreihen, Konzerten und Performances ein, die sich mit der wechselvollen Geschichte und der Zukunft der Ausstellungsreihe auseinandersetzen.

Mit einem Festakt am 7. Juni hat die Schau an ihre Gründung erinnert und eine stadtweite Intervention der documenta-12-Künstlerin Cosima von Bonin eröffnet.

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Sendung: hr INFO

Quelle: 07.06.2025 10:30