Jubiläum der Weltkunstschau in Kassel 7.000 Eichen, 1.000 Chinesen und ein Holzturm: Die documenta wird 70
Die documenta gilt als eine der weltweit wichtigsten Kunstausstellungen der Gegenwart. Mit beeindruckenden Werken, durchschlagenden Debatten und einem Skandal hat sie in den vergangenen Jahrzehnten eine gewaltige Entwicklung hingelegt. Ein Rückblick.
Renate Petzinger joggt im Jahr 1977 durch die Kasseler Karlsaue. Es steht dichter Morgennebel im Park, als mitten auf der Wiese plötzlich ein überdimensionales Papierschiffchen auftaucht: das "Traumschiff Tante Olga". Ein Kunstwerk der documenta6. "Das war so bezaubernd", schwärmt Petzinger noch heute. "Das war für mich die absolute Poesie."
Aber auch andere Kunstwerke wie der Basalthaufen von Joseph Beuys und die mit Tinte und Schulbänken dargestellten Kinderalbträume von Rebecca Horn haben sich in die Erinnerung der 82-jährigen Kasselerin eingeprägt. 70 Jahre documenta-Geschichte haben Spuren in ihr und ihrer Heimatstadt hinterlassen.
Kandinsky, Klee, Picasso – direkt neben der Bundesgartenschau
Ursprünglich als Begleitausstellung zur Bundesgartenschau wurde die documenta 1955 von Arnold Bode gegründet. In einer durch den Krieg zerbombten Stadt zeigte sie Werke von großen Künstlern der Nachkriegszeit – etwa von Picasso, Kandinsky und Klee – und brachte gleichzeitig neue Farbe in die Ruinen.
"Der Unterschied zwischen der documenta und den anderen Ausstellungen der Zeit war das Gefühl der Dringlichkeit", sagt Carolyn Christov-Bakargiev, die Kuratorin der documenta13 im Rückblick. Diese Dringlichkeit der Kunst sei nach dem Leid des zweiten Weltkrieges besonders hoch gewesen.
Arnold Bode als Vater der documenta
Bode habe das erkannt, sagt Christov-Bakargiev. Von Beginn an hatte der Sozialdemokrat, der von den Nationalsozialisten mit einem Berufsverbot belegt worden war, die Ausstellung als international angelegt. Dass an seiner Seite unter den ersten documenta-Verantwortlichen zahlreiche NSDAP-Mitglieder gewesen sind, sollte sich erst Jahrzehnte später zeigen.
Doch Bode war es, der die ersten vier Ausgaben der Weltkunstschau leitete, bis ins Jahr 1968. In seiner letzten berücksichtigt er auch abstraktere Kunstformen, wie Pop-Art oder Minimalismus. Die Begeisterung der Bevölkerung war damals noch begrenzt.
7.000 Eichen, 1.000 Chinesen und ein Holzturm
Das änderte sich mit der Zeit. Auch weil die documenta in Kassel immer wieder in den öffentlichen Raum eingriff. Auf der documenta7 etwa pflanzte Joseph Beuys 7.000 Eichen, die bis heute im ganzen Stadtgebiet verteilt sind. Auch der chinesische Künstler Ai Weiwei hat sich in das Gedächtnis der Stadt gebrannt.
Er flog nicht nur 1.000 Chinesen nach Kassel ein, sondern baute auch einen Holz-Turm aus ausrangierten Türen, der schon vier Tage nach Eröffnung der documenta12 in sich zusammenstürzte. "Der Preis hat sich soeben verdoppelt", kommentierte er damals trocken mit Blick auf einen möglichen Verkauf des Werkes.
Kunstliebhaber leben in Kassel – dank documenta
Renate Petzinger schätzt diese Offenheit der Stadt gegenüber der Weltkunst: "Ich lebe hier ungeheuer gerne, weil ich mit ganz vielen Menschen aus unterschiedlichsten Lebensperspektiven immer Gespräche über Kunst anfangen kann", sagt sie.
Als sie in den 1970er Jahren nach Kassel kam, sei die documenta noch ein geschlossener Fremdkörper gewesen. Doch durch das Einbeziehen der Öffentlichkeit, schaffte die Ausstellung es, sich Stück für Stück zu öffnen. Das ist auch den künstlerischen Leitungen zu verdanken.
Von Wüste bis Nordpol: Kunstschaffende aus aller Welt
Die inzwischen 67-jährige Carolyn Christov-Bakargiev hat das "Fühlen" als wichtigste Prämisse der documenta13 übernommen, um die Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt bei der Ausstellung zusammenzuführen.
Sie fand Kunstschaffende am Nordpol und in der Wüste und brachte die Ausstellung erstmals in vier Ländern zugleich. "Es gab ab den 1990er Jahren die Bewegung, die Ausstellung zu dezentralisieren", erklärt sie diesen Prozess der Internationalisierung.
Die Kuratoren von Ruangrupa haben diese Bewegung bei der letzten documenta15 einfach umgedreht. Die Idee: "Wir können auch die ganze Welt bei der documenta in Kassel haben."
Geschäftsführer Hoffmann: "Die documenta hat am Abgrund gestanden"
Eine Entscheidung, die in einem beispiellosen Skandal in der Geschichte der documenta endet. Unter anderem war unter Ruangrupas künstlerischer Leitung ein klar antisemitisches Bild von einem stilisierten Juden mit blutunterlaufenen Augen, Reißzähnen und SS-Runen am Hut in Kassels Innenstadt aufgehängt worden.
Nach vielfacher Kritik hatte die documenta das Kunstwerk dann verhüllt, abgehängt und eine differenzierte Aufarbeitung versprochen. "Die documenta hat am Abgrund gestanden und ist danach durch ein langes, tiefes Tal gegangen", sagt der heutige Geschäftsführer Andreas Hoffmann rückblickend.
Rollenteilung soll zukünftige Skandale verhindern
In Zukunft erlaube es eine neue Rollenteilung der Kuratorin und der Geschäftsführung, gegen Antisemitismus, Rassismus und anderer gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorzugehen. Alles, was im Rahmen der Gesetze erlaubt sei, könne aber weiterhin auf der documenta16 präsentiert werden, sagt Hoffmann.
Er glaubt dabei an ein Erfolgsformat: "Die Wahrnehmung einer documenta ist sehr von einer künstlerischen Leitung geprägt", erklärt er. Die Ausstellung sei dadurch auch immer ein "Seismograf zentraler Diskurse der Gegenwart" gewesen. Die neue Kuratorin Naomi Beckwith habe einen Stimmungswechsel hervorgerufen. Viele Kritiker seien schon jetzt begeistert und freuten sich auf das Jahr 2027.