Seelsorger Joachim Schaefer im Interview Rechte Verlockungen für Pubertierende: "Der nördliche Lahn-Dill-Kreis ist ein Hotspot"
Ein 14-Jähriger aus dem Lahn-Dill-Kreis soll Mitglied einer mutmaßlich rechten Terrorzelle sein. Wie kann es passieren, dass Jugendliche so früh radikalisiert werden? Und was lässt sich dagegen tun?
Joachim Schaefer engagiert sich seit Jahren gegen Rechtsextremismus. Er ist Seelsorger und Pastoralreferent in Wetzlar und versuchte unter anderem, den früheren Neonazi Francesco M., der Anfang April eine 17-Jährige erschossen haben soll, von der rechten Szene abzubringen.
Im Gespräch mit dem hr spricht er über die Radikalisierung von mittelhessischen Jugendlichen, den Reiz des Rechtsextremismus und mögliche Wege zu einer Verbesserung.
Das Gespräch führte Nina Michalk.
Ende der weiteren Informationenhessenschau.de: Herr Schäfer, ist Mittelhessen ein rechtsextremer Hotspot?
Joachim Schaefer: Vor einem Jahr wurden hier fünf junge Menschen festgenommen, weil sie einen Anschlag gegen einen Homosexuellen geplant haben sollen. In der Zwischenzeit war es relativ ruhig, im Norden des Lahn-Dill-Kreises wurden aber immer wieder Flüchtlingsheime volksverhetzend beschmiert. Ich würde deshalb sagen, dass vor allem der nördliche Teil des Lahn-Dill-Kreises ein Hotspot ist. Dieser Part grenzt an das Siegerland, dort ist der Dritte Weg sehr aktiv.
Die Gegend dort um Haiger, Dillenburg, Herborn ist auch sehr religiös fundamentalistisch geprägt. Die AfD ist dort sehr stark vertreten und hatte in der Vergangenheit nie Berührungsängste mit rechtsextremen Gruppierungen. Insgesamt sehe ich einen Hotspot aber vor allem auch im Internet. Die aktuellen Festnahmen zeigen ja, dass es über die Landesgrenzen hinausgeht.
hessenschau.de: Trotzdem scheint sich im Lahn-Dill-Kreis ja eine gewisse Haltung durchgesetzt zu haben.
Schaefer: Ich bin hier ja auch als Seelsorger unterwegs und habe oft Kontakt zu jungen Menschen, die in das rechtsextreme Lager tendieren. Erst vor kurzem hatte ich Begegnungen mit Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 15 Jahren, die eindeutig sagen, dass sie rechts sind. Es gibt das Feindbild Flüchtling, es gibt das Feindbild Ausländer. Diese Jugendlichen sagen: "Ich fühle mich fremd in meiner Klasse, ich fühle mich fremd in meiner Stadt." So etwas kann schnell negative Energie hervorrufen, das beobachte ich immer wieder. Ich bin deshalb sehr besorgt.
hessenschau.de: Wie organisieren sich diese rechten Jugendlichen?
Schaefer: Ich beobachte, dass es bundesweit ein neues Agitationskonzept gibt. Man lockt die Jugendlichen nicht mehr in eine Jugendpartei, sondern bildet Ortsgruppen. Das können ganz kleine Gruppierungen sein, die dann bei Demonstrationen zusammengerufen werden. Dort werden die kleineren von größeren Gruppierungen motiviert, auch an größeren Demos in Berlin oder Kassel teilzunehmen.
Junge und naive Menschen werden in den rechtsextremen Kreisen aufgenommen, das ist eine Art neue Jugendbewegung. Zitat von Joachim SchaeferZitat Ende
Diese Jugendlichen treten nicht mehr mit Glatze und Springerstiefel auf, sie haben aber die gleichen Feindbilder. Die Deutschlandfahne ist sehr wichtig, das deutsche Volk wird plötzlich als Zielscheibe gesehen. Den jungen Menschen wird gesagt, dass sie für etwas Gutes kämpfen. Vor allem Pubertierende sind da sehr gefährdet.
hessenschau.de: Kommen wir noch einmal zum aktuellen Fall der mutmaßlichen rechten Terrorgruppe. Die Verdächtigen sollen Anschläge auf Flüchtlingsheime geplant und Unterkünfte beschmiert haben. Was macht das mit den Bewohnern und Bewohnerinnen?
Schaefer: Ich kenne eine Familie, die von den Schmierereien am Flüchtlingsheim betroffen ist. Man denkt, so etwas ist ein Streich von jungen Leuten. Aber für die Menschen, die in diesem Haus leben, ist das eine große Bedrohung und sehr verletzend. Dort wohnen Kinder und junge Menschen, die sowieso Angst haben vor einer Abschiebung und um ihre Zukunft fürchten. Dann wird ihnen noch von rechtsextremen Jugendlichen gesagt: "Ausländer raus, wir wollen euch hier nicht." Das ist fürchterlich, das ist keine Lappalie.
hessenschau.de: Was ist die Motivation dieser Jugendlichen, sich diesem rechtsextremen Weg anzuschließen?
Schaefer: Ich beobachte oft Minderwertigkeitsgefühle, Frusterfahrungen, einen schwierigen Schulverlauf oder Probleme in der Familie. Die Frage steht im Raum: Was ist mit diesen Menschen auf dem Weg von der Kindheit in die Pubertät passiert?
Insgesamt muss man sagen, dass der Schritt hinein in eine rechtsextreme Gruppierung kleiner und einfacher geworden ist. Ganz einfach aus dem Grund, dass die Radikalisierung oft schon bei den Eltern stattgefunden hat. Das ist unsere neue Gesellschaft, das sehen wir im Wahlverhalten, im alltäglichen Rassismus, in der Ausländerfeindlichkeit. Viele denken: "Meine Mama wählt die AfD und denkt dasselbe, also werde ich aktiv."
hessenschau.de: Was spielt bei der Radikalisierung noch eine Rolle?
Schaefer: Diese Entwicklungen geschehen natürlich auch einsam im Jugendzimmer. Die passieren ja gar nicht mehr so in den Vereinen, sondern die passieren auf TikTok. Und die TikTok-Propaganda der Rechten ist so einfach und so emotional. Diese klaren Feindbilder, von der Homophobie bis zur Ausländerfeindlichkeit, werden von den jungen Menschen übernommen. Die sagen dann: "Da kann ich jetzt reinschlagen, da kann ich jetzt Menschen bloßstellen." Das ist es plötzlich legal und salonfähig, auf eine bestimmte Menschengruppe abzurotzen.
hessenschau.de: Sind diese Gruppierungen, in denen das passiert, auch eine Art Ersatzfamilie?
Schaefer: Es fällt auf, dass es oft Führerpersönlichkeiten gibt. Es gibt klare Regeln, klare Anordnungen und Befehle, es geht sehr hierarchisch zu. Das ist interessant für junge Menschen und wird als Ersatzfamilie gesehen.
hessenschau.de: Merkt man denn in der Region, dass es Menschen gibt, die sich gegen diesen Rechtsruck stellen?
Schaefer: Es ist so: Einmal im Jahr rufen wir alle irgendwo: "Nazis raus!" Aber beispielsweise auf einer Kirmes, wo es potenziell immer Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie gibt, da stellt sich kaum einer dagegen. Es gibt natürlich schon mutige Menschen, die auch dann mal den Mund aufmachen. Aber das brauchen wir immer mehr. Ein Hakenkreuz ist kein Jungendstreich, dahinter steckt eine bösartige Menschenverachtung.
Wir müssen schon in der Schule anfangen und klarmachen, dass eben nicht nur die, die hier geboren wurden, dazugehören. Nur dann können wir Brücken schlagen. Zitat von Joachim SchaeferZitat Ende
hessenschau.de: Man hat das Gefühl, dass dieser Zug unaufhaltsam ist. Was kann man dagegen tun? Haben Sie noch Hoffnung?
Schaefer: Wir müssen Begegnungsorte schaffen, wo diese verschiedenen Welten miteinander ins Gespräch kommen, wo sie sich kennenlernen, wo man auch das Menschliche sichtbar macht. Jeder Homosexuelle hat ein Gesicht, hat eine Geschichte, hat eine Stimme, hat eine Würde. Diese muss ein junger, homophober Mensch kennenlernen. Sie müssen auch Geflüchteten mal zuhören und verstehen, warum sie hierher gekommen sind.
Wenn man auf dem Boden liegt, wird man getreten. Dieser menschliche Vandalismus muss aufhören. Und das geht nur, wenn sich die verschiedenen Gesichter begegnen.