Mobbing in der Dienstgruppe Wie ein Wachpolizist für Gerechtigkeit in eigener Sache kämpft
Er bringe durch Waghalsigkeit andere in Gefahr und träume vom Heldentod: Mit solchen Lügen schadeten Kollegen einem Gießener Wachpolizisten schwer. Der Mann kämpft seit Jahren um volle Rehabilitierung. Denn ernste Konsequenzen der Mobbingaffäre bekam nur er zu spüren.
Als er mit seiner Dienstgruppe einmal den Weihnachtsmarkt besuchte, entdeckte ein Gießener Wachpolizist zwischen den Buden einen Straftäter, der per Haftbefehl gesucht wurde.
Der 55-Jährige alarmierte die Wache. Dann nahm er unauffällig die Verfolgung auf, bis die herbeigeeilte Streife den Gesuchten ergriff.
Der Mann hätte besser mal weggeschaut. Er hätte überhaupt seinen Job weniger ernst nehmen sollen. Ihm wäre viel Kummer erspart geblieben.
Missgunst und üble Nachrede
Ob er mit einem Kollegen eine suizidgefährdete Frau vom Dach holte oder einen verunglückten Motorradfahrer reanimierte: Wegen solcher Leistungen erntete der Mann zwar Belobigungen und eine Ehrung auf dem Hessentag. Kollegen in der Dienstgruppe aber reagierten mit Missgunst und übler Nachrede. Es wuchs sich zu jahrelangem Mobbing aus, um den Ruf des Mannes zu ruinieren.
Der Versuch, den Mann im Apparat unmöglich zu machen, hatte System. Dieser Befund ergibt sich aus einem internen Bericht, den später der damalige Polizeipräsidenten Bernd Paul in Auftrag gab und der dem hr vorliegt. Die Mobbingvorwürfe, so heißt es darin, seien "unter strikter Betrachtungsweise der allgemeingültigen Mobbingdefinition ausdrücklich zu bejahen“.
Mit bösen Lügen diffamierten Kollegen den Betroffenen als "Psycho", der sich und andere durch waghalsige Aktionen in Gefahr bringe. Man verbreitete, er selbst habe erzählt, dass er vom Heldentod und einem Staatsbegräbnis träume. Er müsse einfach mal Fünfe gerade sein lassen, wurde ihm nach dem Weihnachtsmarkt-Fahndungserfolg vorgehalten. Und dass die Ausflugstruppe zu spät zum Essen kam.
Alles längst geklärt?
Der Fall beschäftigt die Polizei seit mehreren Jahren bis hinauf ins Landespräsidium – in Akten und in Flurgesprächen. Das Amtsgericht war wiederholt involviert, bis 2024 auch der Petitionsausschuss des Landtags.
Denn der Betroffene, der sich auf hr-Anfrage nicht äußern will, kämpft bis heute erbittert um Rehabilitierung. Das zeigen die Unterlagen, die dem hr vorliegen. Die offiziellen Stellen halten die Sache für längst erledigt.
Ernüchterndes Bild
Wachpolizisten durchlaufen nicht die mehrjährige Polizeiausbildung und sind auch nicht verbeamtet. Uniform und Waffen dürfen sie als Hilfstruppe der regulären Polizei tragen, aber ihre Befugnisse sind begrenzt. Sie werden unter anderem im Streifendienst und zum Schutz von Einrichtungen eingesetzt.
Von den Zuständen, unter denen der 55-Jährige in der Gießener Dienstgruppe litt, zeichnete der Mobbingbericht ein Bild. Es habe ein "auffälliges Gefälle im Leistungsniveau“ gegeben und "sehr stark abweichende Wertvorstellungen in Bezug auf Arbeitsauffassung/Moral".
Der Gemobbte wird als perfektionistischer High-Performer beschrieben: "akribisch", "erfahren, zielstrebig und sehr ehrgeizig". Der demotivierte Teil der Gruppe muss das als Zumutung begriffen haben, die es zu bekämpfen gilt.
Haarsträubender Spezialeinsatz
Der "Negativkommunikation" mit und über ihn ließ die Leitung laut Bericht sehenden Auges laufen, Kontrolle und Fachaufsicht fehlten. Mehrere registrierte Vorfälle illustrieren das:
- Ein Geldautomat wird gesprengt. Das Mobbingopfer dringt im Streifenwagen zur Fahrt zum Tatort, das führt zu Streit. Die anderen möchten lieber ihren "Spezialeinsatz" vollenden: Sie wollen einen Kollegen von einer Feier nach Hause fahren.
- Einbrecher lassen sich im Supermarkt einschließen, Mitarbeiter schlagen Alarm. Vor der regulären Polizei sind der Wachpolizist und ein Kollege da, überwältigen die Täter. In der Dienstgruppe wird gemobbt, statt gejubelt: Der Mann habe wieder seine Kompetenzen überschritten und andere in Gefahr gebracht. Das ist unwahr, hält der Bericht fest.
- Der Chef zitiert den Betroffenen herbei, "weil die Gerüchteküche koche" und der Wachpolizist wieder in alte Muster verfalle. Eine Kollegin habe sich wegen der belastenden Streifenfahrten mit ihm krankschreiben lassen. Dabei hatte die Frau einen Bandscheibenvorfall und sagt dem Bericht zufolge: Sie fahre gerne mit dem Kollegen.
- Das Mobbingopfer soll eine Kollegin nach einem Sturz nicht in die Klinik gebracht haben. Die Frau sagt später aus: Der frühere Rettungssanitäter sei besorgt und fürsorglich gewesen.
Opfer wird angezeigt
Als sich das Mobbingopfer seinen Vorgesetzten offenbarte, kam endlich Bewegung in die Sache. Sogar die Staatsanwaltschaft ermittelte – allerdings gegen ihn.
Denn wegen der später bestätigten Vorwürfe erstattete fast ein Dutzend Mitarbeiter der Dienstgruppe Strafanzeige gegen den Wachpolizisten. Vorwurf: Vortäuschung einer Straftat und falsche Verdächtigung.
Nun ging es auf einmal ganz schnell. Das Mobbingopfer wurde freigestellt und sollte versetzt werden.
Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein. Bis ins Amtsgericht hinein sorgte der Vorgang "Wachpolizei zeigt Wachpolizei an" für Befremden, wie man erfährt. Die Bediensteten hatten ihrer gemeinsamen Strafanzeige auch noch offiziellen Anschein gegeben. Der Absender begann mit "Polizeipräsidium Mittelhessen".
Führung mit sich im Reinen
Die Polizeiführung hat an ihrem Umgang mit der Affäre nichts auszusetzen. Ihre Antwort auf eine hr-Anfrage vom Ende des vergangenen Jahres liest sich wie ein schulmäßiger Fall von moderner "Führungs- und Fehlerkultur".
Diese Kultur rief Hessens bis vor einem gut Jahr amtierender Innenminister Peter Beuth (CDU) aus, als vor Jahren vor allem rechtslastige Tendenzen in einzelnen Abteilungen das Image der Polizei beschädigten. Auch Mobbingvorfälle wurden bekannt. Sie mehrten sich, berichtete die Frankfurter Rundschau im Jahr 2023. Gießens Ex-Polizeipräsident Paul sah sich selbst in der Polizeiführung Mobbingvorwürfen ausgesetzt, wie hessenschau.de seinerzeit berichtete.
"Erfahrungen für die Zukunft"
Dem Anliegen des Wachpolizisten will die Führung nicht nur durch das Erstellen des Berichts Rechnung getragen haben. Die Polizeispitze lobt sich auch für "eine stetige, transparente Kommunikation und wertschätzende Einbeziehung des betroffenen Wachpolizisten". So sei die Polizei nicht nur ihrer Fürsorgepflicht gerecht geworden. Sie habe aus der Sache auch gelernt, um "Konsequenzen und Erfahrungen für die Zukunft" zu ziehen.
Beim Führungspersonal der Wachpolizei habe es Veränderungen gegeben. Viele aufarbeitende Gespräche seien geführt worden, in Runden mit einzelnen Wachpolizisten und in Gruppen. Die Fortbildung für Führungskräfte sei ausgebaut, das Teambuilding intensiviert worden.
Folgt man der Darstellung, ist der Gemobbte ja auch noch mit einer Versetzung belohnt worden. Tatsächlich entsandte man ihn, ein Novum, zur regulären Schutzpolizei, wo er bis heute arbeitet.
"Diese für einen Wachpolizisten herausgehobene Verwendung honorierte die guten Leistungen des Angestellten", erklärt das Präsidium auf hr-Anfrage.
Insider: Betriebsfriede ging vor
Ganz so fürsorglich, wertschätzend und transparent kann es nicht gelaufen sein. Das sieht mancher im Polizeiapparat auch so. "Sie haben einen großen Aufwand getrieben. Aber es war halbherzig. Und am Ende war der Betriebsfrieden wichtiger" - das sagt ein inzwischen pensionierter Hauptkommissar, der mit dem Fall vertraut ist.
Die frühere Führungskraft kennt den Wachpolizisten schon lange, wurde nach dessen Versetzung einer seiner Vorgesetzten. "Er wurde immer als Verursacher dargestellt, am Ende als Querulant. Das ist völlig daneben", sagt er. Der Gemobbte sei allenfalls zu gut für die Wachpolizei gewesen. "Er hat sich nie als Problemfall erwiesen und ist ein Top-Schutzmann."
Belohnung war nicht geplant
Folgt man dieser Sicht, dann blieb entgegen der offiziellen Darstellung die fällige schmerzhaften Aufarbeitung persönlicher Verantwortlichkeiten und struktureller Verwerfungen in der Mobbingaffäre im Ansatz stecken. Stattdessen durchzieht ein Hang zur Täter-Opfer-Umkehr die ganze Angelegenheit.
So sollte der Betroffene in die Asservatenkammer versetzt werden, nachdem die Kollegen ihn anzeigten. Als Belohnung war das nicht misszuverstehen, schon weil der 55-Jährige die Schichtzulagen aus dem bisherigen Dienst verloren hätte.
Der Wachpolizist musste sich per Anwalt gegen die drohende Versetzung wehren, zog vor das Amtsgericht. Erst dann folgte die neue Verwendung bei der Schutzpolizei.
Gab es wirklich personelle Konsequenzen?
Auch der Mobbingbericht kam erst zustande, nachdem das Opfers sich beharrlich gegen seine Behandlung wehrte. Dann drohten die für die Polizei unvorteilhaften Ergebnisse in der Schublade zu verschwinden. Der Betroffene musste wieder mit einer Klage vor dem Amtsgericht Druck machen, um den Bericht überhaupt zu bekommen.
Hinter der Darstellung, es habe personelle Konsequenzen aus der Mobbingaffäre gegeben, stehen ebenfalls Fragezeichen. Zwei verantwortliche Chefs der Wachpolizei seien zwar später gegangen – "aber in allen Ehren" nach Erreichen der Altersgrenze, berichtet der pensionierte Hauptkommisar. "Und die, die ihn gemobbt und auch noch angezeigt haben, sind noch immer im Dienst. Da musste keiner die Stelle wechseln."
Nicht einmal geringe disziplinarische Maßnahmen wie eine Rüge habe es gegeben - trotz eindeutig belegbarer Verstöße.
Abgeordnete meldete sich nicht mehr
Mit seinem beharrlichen Drängen auf Gerechtigkeit stieß der Wachpolizist auch in der Politik auf Unverständnis. Der Petitionsausschuss des Landtags sah wie die Polizei keinen weiteren Handlungsbedarf. Mehr als das traf den 55-Jährigen offenbar die Vorgeschichte bis zu dieser Entscheidung.
Davon zeugt eine Beschwerde über die SPD-Abgeordnete Nina Heidt-Sommer ans Landtagspräsidium, die dem hr vorliegt. Mit ihr traf sich der Wachpolizist, weil sie sich im Ausschuss um seinen Fall kümmerte und einen runden Tisch vorbereiten wollte.
Doch die Politikerin meldete sich nach dem Gespräch laut der Beschwerde nie wieder bei dem 55-Jährigen. Das tat dafür die Spitze des Polizeipräsidiums. Man bestellte den Mitarbeiter noch am gleichen Tag ein. Die Abgeordnete habe sich Stunden nach dem Treffen beim Innenministerium gemeldet: Der Wachpolizist sei offenbar suizidgefährdet.
Was Heidt-Sommer zu ihrem Vorgehen bewog, warum sie sich bei den Mobbingopfer nicht mehr gemeldet hat – darauf antwortete sie auf hr-Anfrage nicht. Ihren Eindruck teilte das Polizeipräsidium jedenfalls nicht. Der Mann, dem andernfalls für den bewaffneten Dienst neue Nachteile gedroht hätten, durfte weitermachen. Er sah sich offenkundig schon wieder als Psycho-Fall abgetan.
"Tief in der Ehre gekränkt"
Dass der Wachpolizist nach all den Jahren Ruhe gibt, ist nicht zu erwarten. In dem internen Bericht heißt es über den 55-Jährigen: Obwohl ihm das Mobbing auch gesundheitlich zusetzte, habe er sich nicht krankschreiben lassen. Das unterstreiche seinen "starken Kampfwillen und Sinn für Gerechtigkeit."
Auch der Ex-Hauptkommissar findet, eine angemessene Rehabilitierung stehe noch aus. "Was der Mann erlebt hat, ist schon bitter. Er ist in seiner Ehre tief gekränkt", sagt er. Dabei sei eine Lösung vermutlich ganz einfach: "Es müsste einfach mal einer aufstehen und klar und deutlich sagen: Das ist schiefgelaufen."