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Forscherin Barbara Asbrand über den Abi-Jahrgang 2022

Abitur Wöhlerschule Frankfurt

Nach einer pandemiegeprägten Lernphase hat Hessens Abi-Jahrgang 2022 den besten Notenschnitt seit Jahren erreicht. Ein Corona-Bonus sei das nicht - ganz im Gegenteil, sagt die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Barbara Asbrand im Interview.

Sie sind ein Rekord-Jahrgang: Hessens Abiturienten haben 2022 einen besseren Notendurchschnitt hingelegt als alle vor ihnen seit Einführung des Landesabiturs 2007. Und damit nicht genug: Noch nie bekamen so viele Absolventinnen und Absolventen die Note 1,0. Dabei hatte der Jahrgang ein beachtliches Handicap: Corona prägte die komplette Oberstufenzeit. Wie also geht das zusammen: beste Noten trotz denkbar schwieriger Bedingungen?

Landesschülersprecher Julian Damm erklärt den Erfolg mit einer "enormen Selbstständigkeit", die sich Schüler in der Pandemie angeeignet hätten. Er sehe "keine Hinweise darauf, dass das Anforderungsniveau in den letzten Jahren gesunken ist". Eine Art Corona-Bonus vermutet dagegen der Philologenverband. Er fürchtet, gute Noten würden inflationär verteilt, und sieht dadurch die Glaubwürdigkeit des Abiturs in Gefahr.

Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Barbara Asbrand aus Frankfurt

Solche Sorgen kann die Frankfurter Professorin Barbara Asbrand nicht nachvollziehen - im Gegenteil: Zu viele Abiturienten könne es gar nicht geben, meint die Erziehungswissenschaftlerin. In einer Studie hat Asbrand untersucht, wie sich Schule in Zeiten der Pandemie verändert hat. Dass ausgerechnet der Abi-Jahrgang 2022 so gut abschneidet, ist für sie plausibel - und zwar nicht trotz, sondern wegen der Pandemie.

hessenschau.de: Frau Asbrand, glauben Sie, dass es einen Spielraum bei der Benotung gibt? Gute Abi-Noten als eine Art Corona-Bonus?

Barbara Asbrand: Wir wissen aus der Forschung schon lange, dass Bewertung durch Noten nicht objektiv ist. Aber ich glaube wirklich nicht, dass die Lehrerinnen und Lehrer des jetzigen hessischen Abiturjahrgangs absichtlich milder und netter bewertet haben. Ich unterstelle, dass sie auch während der Pandemie alles gegeben haben. Alles andere ist Spekulation und der schließe ich mich nicht an.

hessenschau.de: Sie scheinen kaum überrascht von diesem Erfolg. Wie erklären Sie sich die guten Noten ausgerechnet in diesem Pandemie-Jahrgang?

Asbrand: Ich bin versucht zu sagen, dass die jetzigen Abiturientinnen und Abiturienten die Profiteure der Pandemie sind. Jedenfalls im Blick auf schulische Leistungen - und nur in dieser Hinsicht. Denn das sind die Schülerinnen und Schüler, die im zweiten Lockdown im Frühjahr 2021 Präsenzunterricht hatten - weil sie zu den Abschlussjahrgängen gehörten. Sie hatten eben keine wackeligen Videokonferenzen.

Während Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe sehr darunter gelitten haben, dass sie keinen Kontakt zu ihren Freundinnen und Freunden haben konnten, war genau dieser Abi-Jahrgang jeden Tag in Präsenz in der Schule, konnte dort die Gleichaltrigen treffen und hatte richtigen Unterricht mit seinen Lehrern und Lehrerinnen.

Dazu kommt, dass das soziale Leben nicht stattgefunden hat. Da blieb vielen Jugendlichen gar nichts anderes übrig, als sich auf die Schule und das Lernen zu konzentrieren.

hessenschau.de: Wenn trotz widriger Bedingungen so viele Schüler gute Abi-Noten schreiben, scheint die Lage an den Schulen ja halb so wild zu sein - könnte man fast meinen. Würden Sie das unterschreiben?

Asbrand: Überhaupt nicht. Es ist ja nur eine selektierte Gruppe, die da sehr gut durchgekommen ist. Zum einen umfasst sie nur Schülerinnen und Schüler, die das Gymnasium besucht haben und die zum anderen während der Pandemie bereits 16 Jahre und älter waren, den Höhepunkt der Pubertät also schon hinter sich hatten. Dazu kommt: Eine größere Zahl der Schülerinnen und Schüler hat die Prüfung offensichtlich gar nicht angetreten. Da muss man sich fragen: Wo sind die hängen geblieben?

Und dann haben wir im Moment einen hohen Krankenstand in den Schulen bei Lehrerinnen und Lehrern, weil sie sehr belastet waren in der Pandemie und sich zum Teil Sorgen um ihre Schülerinnen und Schüler gemacht haben. Das ist natürlich überhaupt nicht optimal.

hessenschau.de: Insgesamt 19.471 Schülerinnen und Schüler haben die Prüfung abgelegt, 2017 waren es 25.317.

Asbrand: Das legt nahe, dass es auch in diesem sehr guten Abi-Jahrgang eine hohe Dropout-Quote gegeben hat. Das korrespondiert auch mit den Befunden aus der Mittelstufe, dass dort viele Schülerinnen und Schüler in der Pandemie überhaupt nicht zurechtgekommen und ganz ausgestiegen sind. Es zeigt sich außerdem, dass die Zahl der Jugendlichen mit psychischen Problemen zugenommen hat.

hessenschau.de: Für Ihr Forschungsprojekt haben Sie mit Schülerinnen und Schülern über die Zeit im Lockdown gesprochen. Wie sah die Institution Schule für sie aus?

Asbrand: Wir haben Mittelstufenschülerinnen und -schüler befragt. Die haben die Zeit so erlebt, dass die Schule alles dominierte. Sie haben gesagt: Viele von uns arbeiten sich tot für die Schule von morgens bis abends - es gab überhaupt kein Stoppzeichen mehr. Schule war überall, auch im privaten Raum, ständig präsent. Sie haben aber auch gesagt: Es gibt Mitschülerinnen und -schüler, die machen gar nichts. Auch Lehrerinnen und Lehrer berichten, dass eine nicht geringe Zahl von Jugendlichen abgetaucht ist und für die Schule nicht erreichbar war.

Die Schülerinnen und Schüler im Distanzunterricht haben diejenigen, die in die Schule gehen durften, regelrecht beneidet: Sie hatten eine geregelte Tagesstruktur, konnten ihre Freunde sehen und hatten eine sehr gute Betreuung durch ihre Lehrerinnen und Lehrer. Das war die Situation dieses Abi-Jahrgangs 2022. Das zeigt, wie wichtig der Präsenzunterricht und das Lernen in echten sozialen Beziehungen sind, die durch Videokonferenzen nicht zu ersetzen sind.

hessenschau.de: Welche Probleme sehen Sie noch auf die Absolventen zukommen?

Asbrand: Ein Schulabschluss ist wichtig, und eine gute Abi-Note ist sicher nicht von Nachteil - aber sie ist eben nicht alles. Für einen erfolgreichen Lebensweg brauchen junge Erwachsene viel mehr: Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Erfahrungen mit sozialen Beziehungen, soziale Kompetenzen. Sie müssen herausgefunden haben, welche Interessen, Stärken und Talente sie haben.

Wir wissen aus der Jugendforschung, dass das vor allem im außerschulischen Bereich erworben wird - und da ist während der Pandemie viel auf der Strecke geblieben: in einer Lebensphase, die man nicht nachholen kann. Deshalb glaube ich, dass diese Abiturienten mit ihren guten Abi-Noten noch einen hohen Preis zahlen werden.

hessenschau.de: Der Hessische Philologenverband kritisiert, dass viele Abiturienten trotz bestandener Abschlussprüfung gar nicht studierfähig seien. Glauben Sie das auch?

Asbrand: Als Hochschullehrerin habe ich es selbst immer mit Erstsemestern zu tun und da würde sagen: Ja, das stimmt. Wir haben Studienanfänger, die große Probleme haben. Aber nicht, weil sie in der Schule zu gut benotet wurden, sondern weil sie eben diese Persönlichkeitsentwicklung nicht hatten. Sie können zum Beispiel sehr gut Aufgaben erledigen, bei denen man ihnen genau sagt, was sie tun sollen. Aber ihnen fehlt teilweise die Eigenständigkeit, die fürs Studium ganz wichtig ist. Das hat aber überhaupt nichts zu tun mit der Zahl der Abiturienten oder mit dem Notendurchschnitt.

hessenschau.de: Können Sie die Sorge nachvollziehen, dass die Glaubwürdigkeit des Abschlusses leidet, wenn womöglich zu viele Schülerinnen und Schüler das Abitur bekommen?

Asbrand: Nein. Aus meiner Sicht kann es gar nicht zu viele Abiturienten geben. Wir leben in einer digitalisierten Welt, in einer Wissensgesellschaft. Wir haben immer weniger Bedarf an schlecht ausgebildeten Arbeitskräften. Es gibt kein Gerät mehr, in dem kein Computer steckt, den man verstehen muss. Es gibt also keinen Grund, die gute Ausbildung auf wenige Abiturienten zu beschränken. Alle Jugendlichen brauchen die bestmögliche Bildung.

Die Fragen stellte Malena Menke.

Weitere Informationen

Studie zum Lernen und Lehren in der Pandemie

Die Erziehungswissenschaftlerinnen Barbara Asbrand, Merle Hummrich und Mirja Silkenbeumer haben in dem Projekt "VerSa" ("Veränderungen durch Schule auf Distanz") erforscht, wie sich die Corona-Pandemie auf die pädagogischen Beziehungen und die Peer-Beziehungen von Jugendlichen in der Schule auswirkt. Sie haben während des Lockdowns im Frühjahr und Sommer 2021 Daten im Distanz- und Wechselunterricht erhoben, außerdem Gruppendiskussionen mit Schülerinnen und Schülern der Mittelstufe geführt. Derzeit arbeiten die Erziehungswissenschaftlerinnen an der Publikation ihrer Forschungsergebnisse. Das Projekt wurde vom Corona-Fonds der Goethe-Universität gefördert.

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