Festakt in Kassel 70 Jahre documenta – und die Frage, wie frei Kunst sein darf
Mit einem Festakt hat Kassel das 70-jährige Bestehen der documenta gefeiert. Oberbürgermeister Schoeller spricht von einem Neuanfang, frühere Kuratoren pochen auf radikale Kunstfreiheit und Hessens Kunstminister warnt vor Bedrohungen von rechts.
Vor rund 1.100 Gästen hat am Samstagabend Kassel mit einem Festakt das 70-jährige Bestehen der documenta gefeiert – und dabei zugleich den Blick in die Zukunft gerichtet.
Für Oberbürgermeister Sven Schoeller (Grüne), zugleich Aufsichtsratschef der documenta gGmbH, ist die Schau mehr als nur Kunst: Zu keinem Zeitpunkt sei sie bloße Dekoration gewesen.
"Sie war und sie ist ein Ort des Denkens und des Handelns mit den Mitteln der Kunst. Ein Ort des Suchens, des Streitens, der Auseinandersetzung mit der Zeit, in der wir leben."
In seiner Rede würdigte Schoeller die Geschichte der Ausstellung als Seismograf gesellschaftlicher Entwicklungen – und als dauerhaften Impulsgeber. Jede documenta habe nicht nur begleitet, sondern Fragen gestellt: politisch, gesellschaftlich, künstlerisch. Die Antisemitismus-Debatten rund um die Ausgabe 2022 bezeichnete er als Wendepunkt. Man habe daraus gelernt und Veränderungen angestoßen.
Zuversicht für die Zukunft
Der Blick richte sich nun nach vorn – mit Zuversicht. Die kommende Kuratorin der documenta 16, Naomi Beckwith vom Guggenheim Museum in New York, bringe eine Haltung mit, die Kunst als produktiven Teil der Gesellschaft verstehe. Ihr Ansatz verbinde historische Präzision mit gesellschaftlicher Weitsicht, sagte Schoeller. Das wecke Hoffnung auf eine documenta, die Brücken baue – ohne Konflikte aus dem Weg zu gehen.
Auch Hessens Kunstminister Timon Gremmels (SPD), stellvertretender Vorsitzender des documenta-Aufsichtsrats, verteidigte die Freiheit der Kunst. Sie sei unverzichtbar – aber auch nicht grenzenlos: "Die Freiheit der Kunst endet dort, wo sie zur Bühne für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird." Gerade deshalb brauche es eine documenta, die auch unbequem sei.
Kuratoren plädieren für absolute Kunstfreiheit
Auch frühere künstlerische Leiterinnen und Leiter der documenta meldeten sich beim Festakt zu Wort – mit einem klaren Appell: Kunst müsse radikal frei sein. Eine Gesellschaft sei dann stark, wenn sie die künstlerische Freiheit aushalten könne, sagte Carolyn Christov-Bakargiev, Kuratorin der documenta 13, vor mehr 1.000 Gästen in der documenta-Halle "Kunst sollte absolut frei sein."
Adam Szymczyk (documenta 14) kritisierte die Rolle der Medien. Skandale entstünden vor allem dort, sagte er, und forderte mehr Zurückhaltung im Urteil über künstlerische Prozesse. Roger M. Buergel (documenta 12) ergänzte: Die Frage, ob Kunst scheitern dürfe, sei falsch gestellt und "vollkommener Unsinn".
Auch Naomi Beckwith betonte: Kunst brauche ein Publikum, das bereit sei, sich herausfordern zu lassen. Wichtiger denn je seien kulturelles Verständnis und Austausch – auch über gewohnte Grenzen hinweg.
Ein Labor für Gegenwartskunst
Kunstminister Gremmels erinnerte daran, dass Kunstfreiheit keine Selbstverständlichkeit sei. Sie werde weltweit und auch in Deutschland bedroht – durch autoritäre Ideologien.
"Es gibt auch in unserer Gesellschaft schon heute in den Parlamenten die, die als allererstes, wenn sie von rechts die Macht übernehmen wollen, an die Kunst ran wollen", sagte er. "Das wird das erste sein, was fallen wird – die Kunstfreiheit und die Kulturfreiheit und die Wissenschaftsfreiheit."
Schoeller fasste das Selbstverständnis der Ausstellung so zusammen: "Wer ein Zukunftslabor für die Gegenwartskunst sucht, kommt an der documenta nicht vorbei." Das Jubiläum sei nicht nur Anlass zum Rückblick, sondern auch zum Aufbruch – künstlerisch wie gesellschaftlich.
Die nächste documenta ist für den 12. Juni bis 19. September 2027 geplant.