"Ein bisschen Wehmut, keine Bitterkeit": SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel verlässt den Landtag.

Vor 16 Jahren kam er in den Landtag, vor zehn Jahren rettete er die Hessen-SPD, an deren Spitze er dann drei Wahlen verlor: Nun hat sich Thorsten Schäfer-Gümbel als Fraktionschef und Abgeordneter verabschiedet.

Videobeitrag

Video

Schäfer-Gümbel nimmt Abschied vom Landtag

hs
Ende des Videobeitrags

SPD-Führungsfrage, Vermögensteuer, Landtagswahlen in Ost-Deutschland: Wann immer man zurzeit die Nachrichten im Fernsehen sieht, scheint einem Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD) zu begegnen. Als einer von drei kommissarischen Parteichefs der SPD befindet sich der 49-Jährige auf dem Höhepunkt seiner Politikerlaufbahn. Paradox, denn er verabschiedet sich gerade "mit ein bisschen Wehmut, aber ohne Bitterkeit" aus der Berufspolitik.

Im März hatte er es angekündigt. Am Dienstag (03.09.19) wurde es ernst mit dem ersten Schritt: Als Fraktionschef und Landtagsabgeordneter hörte der Mann aus Lich (Gießen) auf. Es wurde eine kleine Ehrenrunde nach 16 Jahren Landtag, zehn Jahren Fraktionsvorsitz und 484 absolvierten Sitzungstagen mit 319 Reden.

Und nicht zuletzt: nach drei erfolglosen Kandidaturen als hessischer SPD-Spitzenkandidat.

Warum Reinigungskräfte in der Abschiedsrede vorkamen

Abschied von den Mitarbeitern, Abschied von der Fraktion, Abschied von der Presse und dann Abschied im Parlament. Als Chef der größten Oppositionsfraktion antwortete Schäfer-Gümbel in seiner letzten Rede auf die Regierungserklärung von Kultusminister Alexander Lorz (CDU). Thema: Digitalisierung und Bildung. Tonlage: sachlich-versöhnlich, staatsmännisch-grundsätzlich.

Im persönlichen Schlussteil sprach Schäfer-Gümbel mehr über andere als über sich: Appellierte an die Abgeordneten, nicht länger grußlos an Reinigungskräften der Landtagsverwaltung vorbeizugehen. "Ich finde das unanständig." Dankte den Fahrern für ihren "Knochenjob". Und dankte unter anderem Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), weil die parteiübergreifende Zusammenarbeit dort gelungen sei, wo sie geboten gewesen sei.

Wie ihn die anderen Fraktionen bewerteten

Was Böses rief ihm niemand hinterher. Im Gegenteil. Vor allem die Kopfnoten lagen zwischen sehr gut und gut, wie Kostproben zeigen. "Thorsten Schäfer-Gümbel ist ein Vollblutpolitiker und hat für sein Land viel geleistet“ (Bouffier). "Wir haben ihn als integren Menschen und überzeugten Demokraten mit großer Bodenhaftung kennengelernt" (Grüne).

"Seine besonnene und staatstragende Art hat wesentlich zum besseren Klima im Landtag beigetragenen" (FDP). Laut Linkspartei ist er "ein glaubwürdiger Streiter für mehr Bildungsgerechtigkeit und engagiert gegen jede Form von Rassismus und rechtes Gedankengut".

Was ihm gelang

Vor allem die Blauhelm-Mission ab 2009 als Vorsitzender im Dienst der Hessen-SPD. Die hatte der gescheiterte Versuch seiner Vorgängerin Andrea Ypsilanti fast zerrissen, mit Hilfe der Linken Ministerpräsidentin zu werden. Flügelkämpfe, Nord-Süd-Konflikte – unter TSG, wie Schäfer-Gümbel genannt wird, längst Fehlanzeige. "Heute ist die hessische SPD ein Hort der Stabilität."

Anders als im Bund wurde auch die Chef-Frage ohne Wirren geklärt - und ohne 23 Regionalkonferenzen mit 17 Kandidaten. Am Mittwoch (04.09.19) wird Nancy Faeser Fraktionsvorsitzende und im November wohl auch als Landesvorsitzende Schäfer-Gümbels Nachfolgerin.

Der Ex-Fraktionschef sieht sich aber auch als Teil einer Friedensmission im Landtag: So hasserfüllt wie früher geht es längst nicht mehr zu. Als Oppositionsführer schreibt Schäfer-Gümbel sich und der SPD auch politische Erfolge zu: in der Bewältigung der humanitären Krise durch hohe Flüchtlingszahlen oder der Abschaffung der Studiengebühren.

Was daneben ging

Die Wahlen: Vor allem eben der dreimalige Versuch, Ministerpräsident zu werden. Nach einem Zwischenhoch mit 30,7 Prozent 2013 landete die SPD 2018 hart bei 19,8 Prozent. Am Rednerpult: einige Hiebe auf die Koalition. "Ich bin das ein oder andere mal selbst über Grenzen gegangen", räumte Schäfer-Gümbel ein.

In jüngerer Zeit attestierte er der Ministerriege "alte und kranke Gesichter" oder verglich die Grünen wegen "Wohlfühl-Populismus" indirekt mit der AfD. Gedankenlos schrieb er einmal in einem Tweet über den im Rollstuhl sitzenden damaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU): In der Steuerpolitik könne man ihm beim Gehen die Schuhe besohlen. Die zerknirschte Entschuldigung folgte prompt.

Was jetzt aus TSG wird

Am 1. Oktober wartet der Job als Arbeitsdirektor der bundeseigenen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Eschborn (Main-Taunus) mit rund 200.000 Euro Jahresgehalt. Auch wenn es Versuche des Koalitionspartners gab, das mit einem Last-Minute-Nachtreten noch zu verhindern.

Weil Schäfer-Gümbel noch kommissarischer SPD-Bundesvorsitzender ist, wetterte Peter Ramsauer (CSU): Die GIZ dürfe keine "Beute für erfolglose SPD-Politiker" sein. Der Gescholtene kontert mit der Feststellung: Am 30. September, Schlag Mitternacht, werde er als Teil der aktuellen SPD-Troika ausscheiden.

Was jetzt aus @tsghessen wird

Kaum ein hessischer Politiker war sozial-medial so früh so aktiv wie der Noch-SPD-Landeschef. Ein Foto von seiner dampfenden Kaffeetasse samt Info, wie der Tag beginnt: Das vermittelte seinen  29.000 Followern das morgendliche Gefühl von Stabilität in einer ungewissen Welt.

Auf Twitter will Schäfer-Gümbel demnächst aber nur noch privat unterwegs sein. Aus Facebook steigt er ganz aus. "Das war ohnehin nie mein Medium."

Was ihm garantiert nicht fehlen wird

Die Standardverpflegung für Politiker: "Belegte Brötchen kann ich nicht mehr sehen. Die stehen mir Oberkante Unterlippe.“ Noch weniger vermutlich die Häme der ersten Wochen im Amt des SPD-Landesvorsitzenden, als Medien " wie enthemmt auf mich eingeschlagen haben".

Die Schlagzeile "Thorsten Schäfer-Wer?“ sei noch eine der freundlichsten gewesen. Die Zeiten sind längst vorbei. Als "Hessen-Obama" war Schäfer-Gümbel zwischenzeitlich Kult, die Initialen TSG sind ein Markenzeichen. Und auch über seine Brille ("Retromodell Kuba-Krise") wird nicht mehr gespottet.

Was (ziemlich) garantiert nicht mehr kommt

Ein Comeback. Es kategorisch ausschließen will Schäfer-Gümbel angesichts der Unwägbarkeiten des Lebens zwar nicht. "Es ist aber weder vorgesehen noch geplant."

Und wer sich freut

Nadine Gersberg aus Offenbach. Nicht, weil Schäfer-Gümbel weg ist. Die 42-jährige Sozialwissenschaftlerin rückt auf das für die SPD frei werdende Landtagsmandat nach.

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau kompakt, 3.9.2019, 19:30 Uhr