Eine abwehrende Hand eines Jungen vor seinem Gesicht, das unscharf im Bildhintergrund zu sehen ist.

Seit mehr als zehn Jahren gibt es in Hessen einen Landesaktionsplan, um Kinder besser vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Kurz vor Ende der Legislaturperiode hat die Landesregierung unter Beteiligung von Betroffenen eine Neuauflage veröffentlicht. Doch die Umsetzung steht in den Sternen.

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Aktionsplan gegen sexualisierte Gewalt

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Es beginnt vielleicht mit harmlosen Bemerkungen oder einer leichten Berührung. Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen kann sich schleichend anbahnen, weiß Pia Barth von der Beratungsstelle Pro Familia in Offenbach.

Seit zwei Jahren betreut die 32-jährige Fachberaterin für Psychotraumatologie Kinder, die Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind. "Es sind oft Menschen, denen man das nicht zutraut", sagt sie über die Täter, die mit ihrem Verhalten auch Grenzen austesten würden - sei es in der Schule, im Sportverein oder in den digitalen Medien.

Ziel: Eine "Kultur des Hinsehens" zu schaffen

Ein Problem: Sexualisierte Gewalt sei ein Thema, mit dem man sich nicht alltäglich beschäftigen wolle, so Barth. Deswegen sei es wichtig, eine "Kultur des Hinsehens" zu schaffen, was wiederum nur über einen offenen Austausch gelingen könne.

Genau das war ein Ziel des neuen hessischen "Landesaktionsplans zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt", an dem neben Pro Familia insgesamt mehr als 130 Experten aus ganz Hessen mitgearbeitet haben.

Etwa ein Jahr hat es gedauert, bis die 38 Handlungsempfehlungen fertig waren. Sie wurden nun alle von der schwarz-grünen Landesregierung übernommen und auf mehr als 200 Seiten Papier gedruckt. "Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch ist eine der wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Aufgaben überhaupt", so Sozialminister Kai Klose (Grüne) bei der Präsentation am Dienstag im Hessischen Landtag.

Hier einige der Handlungsempfehlungen:

  • Neben Kitas und Schulen sollen auch andere Institutionen dazu verpflichtet werden, Schutzkonzepte zu erarbeiten.
  • Eine Kinder-Online-Wache soll das Melden und Verfolgen von sexualisierter Gewalt in digitalen Medien erleichtern.
  • In einem interdisziplinären Kompetenzzentrum sollen spezifische Schulungen für alle Berufszweige, die mit Kindern und Jugendlichen umgehen, gebündelt werden.
  • Es soll ein Landesbetroffenenrat gegründet werden, der die Rechte Betroffener stärken und sie in künftige politische Entscheidungen besser einbinden soll.

Missbrauchsbeauftragte Claus lobt Aktionsplan

Schon bei der Ausarbeitung des neuen Landesaktionsplans sei die Sicht von Betroffenen umfassend berücksichtigt worden, so Sozialminister Klose. Ihre Perspektive sei sehr wertvoll. "Sie sind beispielsweise in der Lage, Täterstrategien sehr gut zu beschreiben, auf blinde Flecken aufmerksam zu machen, die es vielleicht in Institutionen gibt." Außerdem könnten sie deutlich machen, wo es zum Beispiel bei der Opferentschädigung oder der Opferbetreuung Lücken gebe.

Experten loben den Aktionsplan. "Ein in dieser Weise breit angelegter, fachübergreifender Prozess, der Betroffene und im Kinderschutz tätige Expertinnen und Experten bei allen Schritten intensiv einbezieht, ist bisher einmalig", sagt die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus.

Warncke: Brauchen konkrete Fortbildungen

Etwas skeptischer zeigt sich Ulrich Warncke, Präventionsbeauftragter beim Weissen Ring. "Ein Plan ist immer nur so gut, wie seine Umsetzung funktioniert", so Warncke. So gebe es seit vielen Jahren eine Vielzahl von sehr guten Konzepten für den Kinderschutz in Papierform, doch diese Ratgeber verstaubten in den Lehrerzimmern. "Was wir brauchen, sind konkrete Fortbildungen für Lehrer und andere Berufe, damit das Bewusstsein für Kinderschutz in den Köpfen verankert wird", fordert Warncke.

Verbesserungspotenzial sieht auch Maud Nordstern, Professorin für Jugendhilfe und Kinderschutz an der Frankfurt University of Applied Sciences. Es gebe noch immer Probleme, die der Landesaktionsplan ignoriere. Zum Beispiel die zu geringe Ausstattung der Jugendämter oder dass es keine unabhängige Heimaufsicht gebe, sagt Nordstern.

Sie bedauert auch, dass der Aktionsplan nicht früher fertig wurde. Dadurch hätten die Handlungsempfehlungen nicht mehr im Haushalt berücksichtigt werden können. In der Tat ist die lange Hausaufgabenliste für die schwarz-grüne Landesregierung eigentlich nicht mehr abzuarbeiten.

Klose: Tempo der Umsetzung steht auf anderem Blatt

Zwar hat der Landesaktionsplan laut Sozialminister Kai Klose "den Rang eines Kabinettsbeschlusses", doch im Oktober ist Landtagswahl und bisher ist lediglich festgelegt, dass in diesem Jahr noch eine Art Vorstufe zum Landesbetroffenenrat eingerichtet werden soll.

Der Rest steht in den Sternen. Auch Sozialminister Klose gesteht: "Die Frage nach dem Tempo der Umsetzung steht auf einem anderen Blatt". Das hänge auch von den Prioritäten der künftigen Landesregierung ab.

Immerhin begrüßen im Grunde alle Oppositionsfraktionen das neue Papier. Die SPD will bei einer künftigen Regierungsbeteiligung "den Plan verstetigen und die Expertise vollumfänglich nutzen, um Kindern und Jugendlichen den Schutz vor sexualisierter Gewalt zu geben, den sie benötigen", heißt es auf Anfrage.

Auch die Linke "fühlt sich den Empfehlungen der Expert*innen selbstverständlich verpflichtet". Die AfD wiederum möchte "auf Basis der Empfehlungen der angehörten Experten die künftige Umsetzung kritisch begleiten". Und die FDP schreibt auf hr-Anfrage allgemein: "Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt hört nicht mit der Legislaturperiode auf und muss vorangetrieben werden."

Angst, dass das Papier in der Schublade verschwindet

"Wir wünschen uns natürlich, dass der Aktionsplan so ernst genommen wird, wie er jetzt festgehalten wurde", sagt Beraterin Barth von Pro Familia. Die Angst, dass die 200 Seiten starke Absichtserklärung in einer Schublade verschwindet, sei trotzdem da, sagt sie.

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