Mann im Arztkittel

Er ist für viele Patienten die letzte Hoffnung: Seit zehn Jahren analysieren Professor Jürgen Schäfer und sein Team medizinische Rätsel und stellen Diagnosen, auf die vor ihnen keiner kam – manche davon sind spektakulär.

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Der Patient lag wie tot auf dem Boden. Immer wieder litt er an plötzlichen Ohnmachtsanfällen, die niemand erklären konnte. Und als wäre das nicht schon eigenartig genug, war er dabei zwar ohnmächtig, aber nicht vollständig bewusstlos. Der Mann konnte sich nicht bewegen und nicht sprechen - hören und sehen allerdings schon. Wie kann so was sein? Kein Arzt hatte Antworten - Jahrzehnte lang.

Für Patienten wie diesen ist Jürgen Schäfer meistens die letzte Hoffnung. Der Medizinprofessor gründete vor zehn Jahren in Marburg das Zentrum für seltene und unerkannte Krankheiten. Er wird dann aktiv, wenn alle anderen nicht mehr weiterwissen.

Dramatische Fälle, jahrelange Leidenswege

Viele Fälle, die das Zentrum bearbeitet, sind dramatisch. Grundschulkinder mit plötzlichem Herzinfarkt oder Menschen, die im Sterben liegen und keiner weiß warum. Medizinische Rätsel, über die nichts in Fachbüchern steht.

Der Arzt berichtet: Bevor sie nach Marburg kommen, haben viele Betroffene schon jahrzehntelange Leidenswege hinter sich, oft mit gar keinen oder falschen Diagnosen, bei einigen wurden die Beschwerden als psychosomatisch eingestuft.

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Seltene Krankheiten

Als "selten" gilt eine Krankheit dann, wenn höchstens einer von 2.000 Menschen von ihr betroffen ist. Auf rund 8.000 verschiedene Krankheiten trifft das zu, deshalb ist die Gesamtzahl der Betroffenen in Deutschland hoch: Etwa vier Millionen Menschen, schätzen Mediziner.

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"In einer idealen Welt bräuchten wir so ein Zentrum nicht", meint der Professor. "Aber in der durchstrukturierten Routinemedizin braucht man eben für manche Patienten ungleich mehr Zeit und die nehmen wir uns - manchmal sogar Tage."

Vorlesung mit Dr. House

Angefangen hat alles im Jahr 2008: Weil er die TV-Serie um den übellaunigen, aber genialen Arzt Dr. House so gut fand, hatte Schäfer die Idee, sie in seine Diagnostik-Vorlesungen einzubinden. "Ich habe gehofft, damit ein paar mehr Studierende als bisher in den Hörsaal zu locken", erzählt er.

Nachdem die Uni-Veranstaltung medial bekannt wurde, drängten sich plötzlich nicht nur die Studierenden in den Reihen, sondern Schäfer konnte sich auch vor Interviewanfragen nicht mehr retten.

Mühsame Spurensuche

So ganz wie in der Serie kann man sich die Arbeit im Marburger Zentrum allerdings nicht vorstellen. Beim Blick in die Arbeits- und Laborräume fällt vor einem eins ins Auge: Überall Papierstapel und abgegriffene Aktenordner.

Ein Großteil der Arbeit bestehe aus Aktenlesen, erklärt Schäfer. Längst nicht alle Patienten kommen außerdem persönlich nach Marburg, das Zentrum arbeitet auch Kliniken zu, die die Betroffenen bei sich vor Ort behandeln.

zwei junge Frauen arbeiten im Labor

In einem Speziallabor werden außerdem DNA-Proben analysiert. Denn: Rund 80 Prozent der seltenen Krankheiten sind genetisch, sie lassen sich also nur mit sehr gezielten Verfahren bestimmen.

Die Kobalt-Hüfte

Besonders aufsehenerregend war ein Fall, den Schäfer und sein Team 2014 im Fachmagazin "The Lancet" publizierten. Hier hatte die TV-Serie tatsächlich dabei "geholfen", das medizinische Rätsel um einen schwerkranken Mann zu lösen.

Der Patient war 2012 nach Marburg gekommen. Der 55-Jährige litt unter anderem an heftigen Fieberschüben und starken Herzproblemen. Auch sein Seh- und Hörvermögen nahmen immer weiter ab. Verschiedenste Diagnosen hatten bereits im Raum gestanden, doch nichts konnte die Symptome wirklich erklären. Krankenakte und Lebenslauf waren unauffällig, nur ein Detail machte Schäfer aufmerksam: die künstliche Hüfte, die der Patient vor Jahren eingesetzt bekommen hatte.

Der Professor erinnerte sich an eine Dr.-House-Folge, in der ein Patient durch eine defekte Hüftprothese eine Kobalt-Vergiftung erlitten hatte. Und tatsächlich: Auch der Patient in Marburg hatte Metall im Blut, die Chrom-Kobalt-Legierung seines Hüftgelenks hatte sich abgerieben. Nachdem das Gelenk getauscht wurde, sanken die Werte wieder, sein Zustand verbesserte sich.

Depression durch Spirale

Besonders betroffen gemacht habe ihn persönlich außerdem der Fall einer Frau, die jahrelang unter schweren Depressionen litt, berichtet Schäfer. "Uns fiel auf, dass es ihr in der Zeit rund um ihre beiden Schwangerschaften immer blendend gegangen war." Das Team konnte einen Zusammenhang mit der Hormonspirale der Frau herstellen, die in seltenen Fällen Depressionen verursachen kann.

"Das Problem war: Der Hausarzt wusste nichts von der Spirale und hat sie zum Psychiater geschickt, der Frauenarzt wusste nichts von der Depression und der Psychiater hat wohl auch nicht an diese Möglichkeit gedacht." Drei Monate nachdem die Spirale draußen war, habe sich die Frau gemeldet und gesagt, es gehe ihr wieder gut. "Das war wie eine Wunderheilung."

Lange Wartelisten

An das Marburger Zentrum haben sich seit der Gründung vor zehn Jahren rund 9.500 Menschen gewandt, etwa 3.000 konnten bisher behandelt werden. Die Wartezeiten betragen zum Teil mehr als ein Jahr.

Inzwischen gibt es ähnliche Zentren auch an anderen Universitätskliniken, so auch am Uniklinikum in Frankfurt. Die Lage für Menschen mit solch seltenen Krankheitsbildern bezeichnet Schäfer aber weiterhin als prekär. "Das zeigen ja auch unsere extrem langen Wartelisten."

Auch die Finanzierung sei immer wieder ein Thema: Längst nicht alle Kosten für die langwierige Spurensuche tragen die Krankenkassen, derzeit kommt viel Geld aus Töpfen der Kliniken. In Hessen wurde deshalb gerade ein neuer Förderverein gegründet. Tanja Raab-Rhein, die Frau von Ministerpräsident Boris Rhein (CDU), hat dafür die Schirmherrschaft übernommen.

Der ohnmächtige Patient

Auch dem Mann, der immer wieder ohnmächtig umfiel, konnten Schäfer und sein Team schließlich helfen: Die Mediziner stellten einen Zusammenhang mit dem Kaliumgehalt seiner Ernährung her und fanden im Labor heraus, dass er an einer bislang unbekannten Mutante litt, die die Ohnmachtsanfälle erklärte.

Die Lösung sei vergleichsweise leicht gewesen, meint der Professor: "Er nimmt nun einfach weniger Kalium zu sich und die Anfälle sind weg."

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