Sorge vor Konflikt in Europa Wenn Kriegsangst zur Krankheit wird

Bislang eher ein Thema für die Meinungsforschung, erreicht das Phänomen der "Kriegsangst" mittlerweile auch die psychotherapeutischen Praxen in Hessen. Zwei Therapeutinnen erklären, wann Kriegsangst krankhaft wird - und worin sie sich von einer Spinnenphobie unterscheidet.

Ein Schid mit der Aufschrift "No war" auf einer Demonstration.
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Kriegsangst ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen: 58 Prozent der deutschen Bevölkerung fühlten sich im vergangenen Jahr durch die Spannungen zwischen dem Westen und Russland persönlich bedroht, wie aus einer repräsentativen Befragung im Auftrag der Bundeswehr hervorgeht. Unter jungen Menschen sind die Sorgen noch größer: 81 Prozent der 12- bis 25-Jährigen gaben an, Angst vor einem großen Krieg in Europa zu haben.

Zahlen des aktuellen ARD-Deutschland-Trends zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs setzen diese Entwicklung fort: Mittlerweile fürchten 64 Prozent bewaffnete Konflikte vor der eigenen Haustür. 2019 lag dieser Wert noch bei 46 Prozent.

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Die Angst vor einem Krieg, sie schlägt vielen auf die Stimmung. Doch wie belastet sind dabei jene Menschen in Hessen, deren psychische Belastbarkeit auch ohne tägliche Schreckensbilder aus der Ukraine oder aus Gaza schon angeschlagen ist: psychisch Erkrankte?

Depressionen als "Risikofaktor" für Kriegsangst

"Diese dunkle Wolke, die über uns allen schwebt, kommt bei psychisch kranken Menschen eben noch on top", sagt Heike Winter, Präsidentin der hessischen Psychotherapeutenkammer und stellvertretende Leiterin der Verhaltenstherapie-Ambulanz an der Uni Frankfurt: "Was, wenn einer von diesen Männern, die an der Macht sind, eben doch den Knopf für die Atombombe drückt?" Angststörungen oder Depressionen seien demnach Risikofaktoren, die Kriegsangst begünstigen können.

Ob Kriegsangst auch als Auslöser für psychische Krankheiten fungieren kann? Winter verneint. In ihrer Ambulanz suchten jährlich rund 1.000 Menschen Hilfe: "Kriegsangst spielt da nicht die maßgebliche Rolle. Das Hauptthema, weshalb Menschen uns aufsuchen, sind die eigenen Probleme." So bedrohlich die Weltlage auch ist, ursächlich für psychische Störungen sei sie eher nicht.

Keine eigenständige Diagnose

Winters Berufskollegin Ariadne Sartorius ist sich da nicht so sicher: Die hessische Landesvorsitzende des Bundesverbands der Vertragspsychotherapeuten behandelt Kinder und Jugendliche in Neu-Isenburg (Offenbach) und Butzbach (Wetterau): "Nach meiner klinischen Erfahrung gibt es das schon: Dass Patienten kommen und sagen: 'Ich habe so große Sorgen, dass der Krieg hier nach Deutschland kommt. Dass ich jetzt eingezogen und in den Krieg geschickt werde.'"

Im Standardwerk für psychische Störungen - dem Diagnosekatalog ICD-11 - findet sich Kriegsangst als eigenständige Diagnose bislang nicht. Ist die Angst vor einem dritten Weltkrieg Anlass und Hauptthema einer Therapie, könne man in Extremfällen von einer "isolierten Phobie" sprechen. Das Phänomen trete jedoch häufiger in Kombination mit anderen Zukunftsängsten wie der Klimakrise, fehlenden Jobperspektiven oder schulischem Druck auf, berichtet Sartorius, als Teil einer generalisierten Angststörung.

Wann wird die Angst zur Krankheit?

Ängste seien erst einmal nichts Schlechtes, erklärt die Therapeutin: "Ängste erhalten uns Menschen am Leben." Die Angst vor einem Autounfall beispielsweise schütze vor riskanten Fahrmanövern.

Pathologisch, also krankhaft, werde eine solche Angst, wenn sie den Alltag bestimme: "In dem Augenblick, in dem es zu einer massiven Belastung wird, wenn ich anfange mit Hamsterkäufen, wenn Gedanken endlos kreisen, wenn ein großer Teil des Tages sich darum dreht, wie ich mich schützen kann, wie hilflos ich eventuell bin."

Und hilflos sind Patienten, die über die Angst vor einem Krieg klagen, tatsächlich: Während beispielsweise eine Spinnenphobie durch die Konfrontation mit Spinnen als therapierbar gilt, liegt die Ursache für Kriegsangst außerhalb des Einflussbereichs der Patienten: nämlich in Moskau, Washington oder Berlin.

Distanzierung und naives Vorgehen

Dennoch könne man lernen, mit Kriegsangst umzugehen. Beispielsweise indem man versuche, weniger Nachrichten zu konsumieren: "Distanzierungsstrategien" nennt Heike Winter das. Und manchmal helfe eben nur – wie Winter selbst sagt – "das naive Vorgehen, nämlich sich zu denken: Es wird schon alles gut gehen."

Quelle: hessenschau.de