926 Vorfälle gemeldet "Antisemitismus ist quasi überall"
Die Zahl der judenfeindlichen Vorfälle in Hessen hat im vergangenen Jahr weiter deutlich zugenommen. Das geht aus dem Jahresbericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus hervor. Juden könnten Angriffen und Drohungen nicht mehr entkommen.
Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Hessen ist 2024 um rund 75 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen. Das zeigt der neue Jahresbericht der landesweiten Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias), der am Donnerstag in Gießen vorgestellt wurde. Demnach wurden im vergangenen Jahr 926 judenfeindliche Vorfälle gemeldet.
Der Bericht spricht von einer "ungebrochenen Welle" von Antisemitismus. Der sprunghafte Anstieg gemeldeter Vorfälle seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 habe sich auch im vergangenen Jahr fortgesetzt. Für das gesamte Jahr 2023 dokumentierte die Meldestelle 528 antisemitische Vorfälle in Hessen. Im Jahr davor waren es 179.
Angriffe und Bedrohungen
Bei einem Großteil der Vorfälle, nämlich 759, handelte es sich dem Bericht zufolge um sogenanntes verletzendes Verhalten. Darunter fallen etwa antisemitische Schmierereien. Die Zahl körperlicher Angriffe und Bedrohungen verdoppelte sich den Zahlen zufolge teilweise.
Häufige Tatorte seien neben öffentlichen Straßen Schulen und Universitäten, teilte die Meldestelle mit. Festzustellen sei auch eine sprachliche Radikalisierung antisemitischer Aussagen. Signifikante Anstiege habe es bei Postings und Kommentaren im Internet gegeben, die sich direkt gegen Personen oder Einrichtungen richteten.
Die jüdische Community habe auch 2024 nicht breite Solidarität erfahren, sondern vor allem Schweigen und Empathielosigkeit, beklagt der Bericht. Susanne Urban von der Rias nannte es erschütternd, "dass Jüdinnen und Juden dem Antisemitismus nicht mehr entkommen könnten, weil er quasi überall sei".
Poseck: Erschreckende Entwicklung
Innenminister Roman Poseck (CDU) nannte die Entwicklung erschreckend. "Es beschämt mich zutiefst, was Jüdinnen und Juden 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland ertragen müssen", sagte er laut einer Mitteilung. Er dankte dem Rias-Team seinen Einsatz im Kampf gegen Antisemitismus.
Poseck betonte, es sei wichtig, dass Zeitzeugen ihre Erfahrungen aus der NS-Zeit und ihre Erinnerungen an den Holocaust schilderten. Er würdigte noch einmal das Wirken von Margot Friedländer und ihr Motto "Seid Menschen. Wir sind alle gleich". Friedländer starb am 9. Mai im Alter von 103 Jahren.
Becker warnt vor Gewöhnung und Gleichgültigkeit
Der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker (CDU) sagte, aus der Welle der Judenfeindlichkeit sei ein "wahrer Tsunami" geworden. Er reiche vom klassischen rechtsextremen Antisemitismus bis hin zum linken antiisraelischen.
"Leider wird der Israel-bezogene Antisemitismus im Alltagsleben zunehmend zum bestimmenden Judenhass, der das Leben von Jüdinnen und Juden so massiv beeinträchtigt", so Becker. Er warnte vor einer "giftigen Mischung aus Gewöhnung und Gleichgültigkeit".
Jüdisches Leben sei seit der Shoah noch nie so bedroht gewesen wie jetzt, auch in Deutschland, sagte Becker weiter. Das mache wütend. "Wir müssen endlich wach werden. Repression und Prävention müssen wir stärken."
Anwältin: "Juden werden in Sippenhaft genommen"
Die Frankfurter Aktivistin und Rechtsanwältin Elishewa Patterson-Baysal beklagte, dass Juden allgemein für den Gaza-Krieg veantwortlich gemacht würden. "Für mich ist es halt auch ganz schwierig, das zu akzeptieren, dass ich als jüdische Person in Sippenhaft genommen werde."
Persönlich empfinde sie die Situation im Gaza-Streifen als absolute Katastrophe. Es gebe auch in Israel viel Opposition gegen den Krieg dort. Es finde jedoch kein differenzierter Diskurs mehr statt.
"Antisemitismus liegt irgendwie im Trend"
Der Vorsteher der jüdischen Gemeinde Gießen, Dow Aviv, berichtete von regelmäßigen Zuschriften und Online-Kommentaren mit Anfeindungen. Er habe das Gefühl, Antisemitismus liege gerade "irgendwie im Trend".
Daniel Navon vom Verband Jüdischer Studierender in Hessen forderte mehr Solidarität. Nichtjüdische Menschen sollten sich damit beschäftigen, was Antisemitismus ist und was man dagegen tun kann.
Beratungsbedarf gestiegen
Rias Hessen ist angebunden an das Demokratiezentrum Hessen an der Philipps-Universität Marburg und leitet auch Betroffene an Beratungsstellen weiter. Auch dort ist der Beratungsbedarf insbesondere seit dem Massaker der Hamas rapide gestiegen, wie aus dem Jahresbericht hervorgeht.