Anonyme Gräber in der Türkei

Drei Monate nach den schweren Erdbeben in der Türkei und in Syrien mit über 50.000 Toten herrscht in den betroffenen Gebieten immer noch Ausnahmezustand. Drei hessische Helfer erzählen, wie sie die Situation vor Ort erleben und was sie dort tun können.

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Hilfe für die Erdbebenopfer geht weiter

hs 06.05.2023
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Spenden in Millionenhöhe - das meldeten Hilfsorganisationen in Deutschland in den ersten Wochen nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien. Die Bereitschaft, Geld zu geben, war hoch: Bis Ende April kamen laut dem Bündnis "Aktion Deutschland hilft" hierzulande etwa 78 Millionen Euro zusammen. Doch inzwischen sinkt die Spendenbereitschaft wieder. Dabei wird auch drei Monate nach der Katastrophe jede Hilfe dringend gebraucht. Drei Hessen vor Ort in der Türkei und Syrien berichten von ihrem Erfahrungen und Beobachtungen:

"Es sieht aus, als wäre das Beben gestern gewesen"

Yekta, 30, aus Groß-Umstadt (Darmstadt-Dieburg) ist mit zwei Freunden aus Gießen in die Türkei gereist. Sie sammeln seit Februar Spenden, haben Familie vor Ort und ihre Verwandten gefragt, was wo benötigt wird. Derzeit sind sie unterwegs, um die Hilfsgüter zu verteilen.

Yekta und Derya als Helferinnen in der Türkei umgeben von Kindern

"Unser erster Halt war die Region Hatay. Das Erdbeben ist schon drei Monate her, doch da sieht es aus, als wäre es erst gestern gewesen", schildert Yekta. "Beim Durchfahren waren wir einfach nur still, keiner hat geredet. Uns haben einfach die Worte für diesen Anblick gefehlt."

Yekta und ihre Freunde Kerem und Derya möchten vor Ort insbesondere Kinder und alleinstehende Frauen unterstützen. Doch auch für herrenlose Straßentiere hatten sie vorab Spenden gesammelt. "Es war sehr schlimm zu sehen, dass die Hunde und Katzen sich total verhungert auf das Essen gestürzt haben, das wir verteilt haben. Und leider haben wir auch einige verstorbene Hunde gesehen. Es denkt leider kaum jemand an die Tiere."

Einen Tag, der ihnen noch lange in Erinnerung bleiben wird, verbrachten die Freunde in der Provinz Kahramanmaraş. "Wir waren dort am Friedhof der Erdbebenopfer, wo auch Familienmitglieder von uns vergraben sind. Dort war es sehr emotional für uns zu sehen, dass die Menschen nicht einmal ein richtiges Grab haben, sondern einfach auf einem Massenfriedhof liegen - zum Teil nur mit einer Nummer versehen."

"Es fehlt an Perspektive in den Zeltlagern"

Cihan Çelik, Lungenfacharzt aus Darmstadt, ist zum wiederholten Mal in der Türkei, um medizinische Versorgung zu leisten. Zurzeit versorgt er Patienten in einem Zeltdorf in Antakya, der Hauptstadt der Provinz Hatay.

celik

"Es fehlt an Perspektive. Hier in diesem Lager hat sich in den letzten drei Monaten nicht viel getan. Die Menschen haben sich in den Zelten eingerichtet, aber wie soll es weitergehen?", fragt sich Çelik. "Ein weiteres halbes Jahr kann man in diesen Zelten nicht durchhalten. Die Kinder, die zwischen den Zelten spielen, müssen ja auch ihre Bildung genießen."

Laut Çelik sorgen die hygienischen Bedingungen mittlerweile für gesundheitliche Probleme. Viele Menschen hätten mit Durchfall und Hauterkrankungen zu kämpfen. Dazu kämen Husten und Augeninfektionen - auch verursacht durch den Staub der Trümmer. Doch die Menschen brauchten nicht nur medizinische Versorgung. Auch Austausch sei ihnen wichtig.

"Meistens reicht die Eröffnungsfrage 'Wo leben Sie?'. Die stelle ich, weil ich ja auch verstehen muss, unter welchen hygienischen Bedingungen der Patient untergebracht ist", erklärt er. "Das ist meistens der Moment, in dem der Patient anfängt zu erzählen, was er alles verloren hat und wen er alles verloren hat. Man muss nur leicht in diese Richtung gehen und schon haben die Menschen das Bedürfnis, zu erzählen. Und dann fließen ganz schnell Tränen." In solchen Momenten habe auch er selbst zu kämpfen.

"Es gibt immer noch Städte in Syrien, die fast komplett zerstört sind"

Safour Labanieh kommt ursprünglich aus Aleppo. Seit 30 Jahren lebt er in Deutschland und ist Geschäftsführer des Deutsch-Syrischen Vereins in Darmstadt. Dieser bietet psychologische Hilfe vor Ort an, verteilt Hilfsgüter und organisiert den Wiederaufbau von Wohnungen. Labanieh ist derzeit in der Türkei unterwegs und plant nach eigenen Angaben, in den kommenden Tagen nach Syrien zu reisen. Dort ist die Lage besonders schwierig, sagt er.

Safour Labanieh steht vor einem eingestürzten Haus in Syrien.

"In der Region des Erdbebens, also in Nordwestsyrien, gibt es keine Regierung. Da ist keine Infrastruktur und es gab keine professionelle Hilfsorganisation, wie in der Türkei. In der Türkei ist die Regierung zuständig, der Naturkatastrophenschutz. Aber in Nordwestsyrien hat das gefehlt", beschreibt Labanieh die Ausgangssituation.

Kurz nach den Beben war schon einmal vor Ort. Einige Erlebnisse seien ihm besonders im Gedächtnis geblieben. "Das Gebiet war abgeriegelt, es konnte kaum Hilfe reinkommen. Man hat gesehen, wie die Menschen dort sterben, ohne dass man etwas machen konnte. Man hat sie unter den Trümmern gehört und war hilflos." Die erste Woche sei sehr schwer gewesen.

Mittlerweile sei die Situation vor Ort etwas besser, viele Hilfsorganisationen seien vor Ort. "Ein paar Häuser wurden wiederaufgebaut und viele Menschen sind in Zeltlagern untergebracht. Es gibt aber immer noch Städte, die fast komplett zerstört sind und es wird auch sehr lange dauern, bis man sie wiederaufbauen kann." Auch schon vor dem Beben seien die Menschen in der Region auf humanitäre Hilfe angewiesen gewesen.

In der kommenden Zeit möchte Labanieh mit seinem Verein kleine, einstöckige Wohneinheiten in Syrien bauen, die erdbebensicher sind. Für die Zukunft wünsche er sich, dass die Menschen im Erdbebengebiet nicht in Vergessenheit geraten. Und dass "weiterhin Spenden und Helfer kommen, damit es eine Perspektive gibt".

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