Ein Mann durchsucht nach einem Erdbeben eingestürzte Gebäude.

Die hessische Linken-Politikerin Janine Wissler hat die schweren Erdbeben in der Türkei miterlebt. Sie berichtet von überforderten Hilfskräften und Menschen, die barfuß aus ihren Häusern flüchteten.

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Janine Wissler über Erdbeben: "Ein Wettlauf gegen die Zeit"

Janine Wissler
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Nach den Erdbeben in der Türkei und Syrien in der Nacht zum Montag ist die Zahl der Toten auf fast 5.000 gestiegen. Rettungskräfte suchen weiter nach Überlebenden - bei Temperaturen um den Gefrierpunkt.

Die hessische Bundestagsabgeordnete und Parteichefin der Linken, Janine Wissler, erlebte das Erdbeben in der osttürkischen Großstadt Diyarbakir. Dort war sie für Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der pro-kurdischen Partei HDP. Sie schildert im Interview ihre Eindrücke.

hessenschau.de: Frau Wissler, Sie haben das Erdbeben in der Nacht zum Montag miterlebt. Wie sind Sie wach geworden?

Janine Wissler: Ich bin aus dem Schlaf gerissen worden: Es hat alles gewackelt und geknarzt. Mir war dann relativ schnell klar: Das ist ein Erdbeben. Es war sehr heftig, es hat aber vor allem auch sehr lange gedauert. Ich habe zwischenzeitlich gedacht: Es muss doch jetzt auch mal zu Ende gehen.

Viele Leute in der Türkei, die Erdbeben aus dem Risikogebiet hier kennen, haben mir gesagt: Die Heftigkeit, die Länge des Bebens und diese starken Nachbeben, das ist wirklich völlig außergewöhnlich.

hessenschau.de: Wie lange genau hat das Erdbeben gedauert?

Wissler: Es ist schwierig, das genau einzuschätzen, wenn man so aus dem Schlaf gerissen wird. Aber es gibt Berichte, die sagen, es hat fast zwei Minuten gedauert.

Das fühlt sich wie eine Ewigkeit an, wenn alles um einen herum wackelt und man sich hilflos fühlt. Man kann ja nicht weglaufen. Wohin soll man laufen, wenn der Boden unter den Füßen wackelt?

hessenschau.de: Was haben Sie dann gemacht?

Wissler: Ich habe das erste Beben abgewartet und bin aufgestanden. Dann kam auch schon das Nachbeben. Ich habe mich angezogen - es ist ja bitterkalt in der Region - und bin auf die Straße gegangen. Es war völlig unklar, wie viele Nachbeben noch kommen. Im ersten Moment wusste ich nicht genau, was ich machen sollte. Ich kenne mich ja auch in der Stadt nicht aus, wusste auch nicht, wie die Situation draußen ist.

Auf der Straße habe ich völlig verängstigte Menschen gesehen, die zum Teil barfuß in Sandalen waren, bei Minusgraden und Schnee. Sie sind in Todesangst aus ihren Häusern geflüchtet. Es waren Menschen im Schlafanzug, die sich nur eine Decke umgehängt haben. In dem Moment war mir bewusst, dass das kein gewöhnliches Erdbeben ist. Dann habe ich die Zerstörung und die eingestürzten Häuser gesehen.

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hessenschau.de: Wie lang hat es gedauert, bis sie das Gefühl hatten, jetzt greifen hier offizielle Kräfte ein, jetzt wird was organisiert?

Wissler: Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl in Diyarbakir überhaupt nicht. Ich war nachts auf der Straße und habe dort einige wenige Polizeiautos gesehen, aber eigentlich gar keine Hilfskräfte. Ich bin ja unterwegs mit einer Abgeordneten der HDP im türkischen Parlament, die in Diyarbakir wohnt. Sie hat versucht, mit Anwohnerinnen und Anwohnern mit bloßen Händen Menschen aus einem Haus zu befreien. Es war völlig chaotisch.

Am nächsten Morgen, als ich durch die Stadt gefahren bin, waren einige Straßen gesperrt. Mein Eindruck war, dass die Hilfskräfte wirklich sehr lange gebraucht haben und in vielen Gebieten noch gar nicht angekommen sind. Wir reden ja nicht nur über den Süden der Türkei, sondern auch über Nord-Ost-Syrien, eine besonders stark vom Krieg gebeutelte Region. Dort sind viele Flüchtlingslager, die teilweise schwer zugänglich sind und jetzt sehr dringend Hilfe brauchen.

hessenschau.de: Was muss aus Ihrer Sicht nun passieren?

Wissler: Es ist eiskalt in dem Erdbebengebiet, es schneit sehr viel. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, weil so viele Menschen noch in den Trümmern vermisst werden und der Kälte schutzlos ausgeliefert sind.

Deswegen ist es dringend notwendig, dass schnell internationale Hilfe kommt und die Menschen aus den Trümmern geholt werden. Diejenigen, die alles verloren haben, müssen jetzt versorgt werden, gerade bei diesen Temperaturen.

Das Gespräch führte Doris Renck.

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