Ein Abgeordneter fühlt sich vom Landtag diskriminiert: Er darf seine Arbeit im Petitionsausschuss nicht fortsetzen, seit er im Streit die AfD verließ. Mit der Begründung tut sich das Parlament schwer.

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"Ein Fraktionsloser ist doch nicht weniger wert"

Der Platz des fraktionslosen Abgeordneten Walter Wissenbach im Plenarsaal des Landtags.
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Am Rand zu stehen ist ein Gefühl, das Walter Wissenbach vertraut ist. Als er vor viereinhalb Jahren Landtagsabgeordneter wurde, ließen ihn viele Kollegen im Parlament aus Prinzip rechts liegen. Wissenbach war in der AfD.

Mit lautem Knall trennte er sich von Partei und Fraktion. Falls er hoffte, als Ein-Mann-Politbetrieb ein unbeschwertes Glück zu finden, hat er sich geschnitten. Statt am Rand steht er jetzt außerhalb des Spielfelds. Und so liegt der Jurist aus Hanau seit Wochen mit der Institution Landtag im Clinch.

Der 66-Jährige wollte unbedingt seine Arbeit im Petitionsausschuss des Parlaments fortsetzen. Der Ausschuss befasst sich vor allem mit Eingaben von Bürgern, die Entscheidungen von Behörden nicht hinnehmen wollen. Aber man lässt Wissenbach nicht hinein, weil er keiner Fraktion mehr angehört.

Streitlust und Prinzip

"Das ist Willkür. Man kann mir keinen sachlichen Grund nennen", sagt Wissenbach zur Entscheidung des zuständigen Ältestenrates um Landtagspräsidentin Astrid Wallmann (CDU). Er habe jahrelang ohne Beanstandung mitgearbeitet, sei als Jurist auch gut geeignet. Und er wolle für seine Diäten doch auch etwas tun.

Wissenbach ist nicht der Erste seiner Art, der nicht erwünscht ist. Er wehrt sich bloß als Erster.

Konfliktscheu ist der Mann nicht. Bevor er aus der AfD austrat ("Schande für Deutschland"), war der Jurist Mitbegründer der gegen den rechtsextremen völkischen "Flügel" gerichteten "Alternative Mitte" der Partei. Vor Gericht verteidigte er sein Recht, den Co-Landesvorsitzenden Andreas Lichert ein Mitglied der rechtsextremen Identitären Bewegung zu nennen.

Ein streitlustiger Mandatsträger, der um sein Steckenpferd kämpft? Es geht um mehr, um Grundsätzliches. Die Frage lautet: Wie darf ein Parlament mit einem umgehen, dem als gewähltem und nur seinem Gewissen unterworfenem Volksvertreter Teilhabe zusteht, der aber nicht den Rückhalt und Apparat einer Fraktion genießt?

Walter Wissenbach (AfD)

Kummerkasten der Demokratie

In der Regel dürfen sich Fraktionslose in Wiesbaden ihren Ausschuss sogar aussuchen. Ohne dass es irgendwo nachvollziehbar geregelt wäre, ist aber ein Gremium für sie tabu: der Petitionsausschuss. Über ihn sagt Ex-Mitglied Wissenbach: "Das ist eine tolle Sache, da wird ausgezeichnete Arbeit geleistet."

Dieser Petitionsausschuss ist ein Kummerkasten der Demokratie, für viele Menschen die letzte Hoffnung in existenziellen Streitsachen. Wer immer in Hessen gegen eine Entscheidung von Politik und Behörden vorgehen will, kann sich an ihn wenden. Ob abgelehnter Asylantrag oder Nachbarschaftsstreit um Erdaushub: Rund 1.000 Bitten pro Jahr gehen ein.

Jahrelang hat sich auch Wissenbach um solche Fälle gekümmert, ausgestattet mit besonderen Befugnissen. Er hat Bürger angehört, Verwaltungen zu Stellungnahmen aufgefordert und Runde Tische einberufen. Dann hat er im Ausschuss berichtet, was er herausgefunden hat. Berichterstatter heißen die Abgeordneten deshalb. Am Ende entscheidet erst der Ausschuss, dann der Landtag.

Sexy ist das nicht. Der Petitionsausschuss tagt hinter verschlossenen Türen und macht jede Menge Arbeit. Wer glänzen oder eine ruhige Kugel schieben will, ist hier falsch. Und wohl nirgendwo sonst im Parlament scheint es eine geringere Rolle zu spielen, in welcher Fraktion man ist. Oder ob überhaupt. Meist wird einvernehmlich entschieden.

Das Versprechen der "uneingeschränkte Rechte"

Nähme sich der Landtag selbst beim Wort, stellte sich das Problem fraktionsloser Berichterstatter gar nicht. Im Internet hat das Parlament zu Beginn der Wahlperiode 2019 einen Beschluss des Ältestenrates mit der unmissverständlichen Information versehen: "Ein fraktionsloser Abgeordneter hat uneingeschränkt alle Rechte, die sich aus dem Mandat ergeben und ist somit allen Abgeordneten des Hessischen Landtages gleichgestellt.“

Anlass für die Klarstellung war damals, dass die AfD-Politikerin Alexandra Walther erst gar nicht in die Fraktion ihrer Partei aufgenommen wurde. Inzwischen sind durch den Streit in der AfD weitere Fraktionslose hinzugekommen. Vereinzelte Fälle gab es nach Austritten aus anderen Parteien früher auch schon.

Von der Geschäftsordnung vernachlässigt

Kontrollierbar zu regeln, wie mit Fraktionslosen verfahren wird, wäre eigentlich eine Sache für die Geschäftsordnung des Landtags, über die der Ältestenrat wacht. Ihm gehören neben dem Parlamentspräsidium Mitglieder aller Fraktionen an. Wissenbach selbst ist auch dabei, weil er einer der Schriftführer des Parlaments ist.

Die Geschäftsordnung befasst sich mit Fraktionslosen aber erst gar nicht. Deshalb beschloss der Ältestenrat im Einzelfall Walthers ausdrücklich, was generell Sache ist: etwa, wie lange sie im Parlament reden darf und dass sie das Recht auf einen Platz in einem der ansonsten nach Fraktionsstärke besetzten Ausschüsse hat. Sie kam wunschgemäß in den Kulturausschuss.

Vom Verfassungsgericht gestärkt

Das ist keine Gunsterweisung, sondern einem Machtwort des Bundesverfassungsgerichts geschuldet. Karlsruhe hatte 1989 die Außenseiterexistenz fraktionsloser Mandatsträger im bahnbrechenden Wüppesahl-Urteil gestärkt.

Seinerzeit musste sich der gleichnamige Bundestagsabgeordnete in einem Präzedenzfall nach seinem Austritt aus der Grünen-Fraktion Rederecht und Platz in einem Ausschuss mühsam erkämpfen.

Stimmrecht billigte das Verfassungsgericht Fraktionslosen damals im Ausschuss nicht zu, damit die Mehrheitsverhältnisse im Plenum in jedem Fall auch dort gewahrt bleiben. Wissenbach will auch gar nicht abstimmen, bloß mitarbeiten.

Landtag nennt keinen Grund

In dem Streit berufen sich beide Seiten auf das Bundesverfassungsgericht. Ein Sprecher von Landtagspräsidentin Wallmann räumt auf Anfrage zwar ein, dass der Hanauer Politiker laut dem Grundsatzurteil angehört und seine Interessen "nach Möglichkeit" auch berücksichtigt werden müssten. Er beruft sich aber auf die Passage der Richter, wonach der Ältestenrat das letzte Wort bei der Wahl des Ausschusses hat.

Eine Antwort darauf, aus welchen Gründen der Petitionsausschuss für Fraktionslose tabu ist, glaubt der Landtag der Öffentlichkeit allerdings nicht zu schulden. Weil der Rat vertraulich berät, kann laut Parlamentssprecher "zu denen von Ihnen aufgeworfenen Fragen nur eingeschränkt Stellung genommen werden".

Angst vor Arbeitsmangel?

Über Gründe schweigt sich auch Oliver Ulloth (SPD), der Vorsitzende des Petitionsausschusses, auf Anfrage aus. Der Ältestenrat sei zuständig. Intern, in einer ausführlichen Stellungnahme an Landtagspräsidentin Wallmann, hat er die Aufnahme Wissenbachs strikt abgelehnt. "Nach einhelliger Meinung" aller Mitglieder sei "die Rolle des Berichterstatters nicht mit dem Status der Fraktionslosigkeit kompatibel".

Ein überraschendes Argument: Die Mitarbeit eines Fraktionslosen beschneidet nach Meinung Ulloths die Rechte der anderen Ausschussmitglieder. Denn durch ihn "verringert sich die Zahl der auf die Berichterstatter entfallenden Petitionen“. Wissenbach stört also, weil er den anderen Arbeit abnehmen könnte.

Vor allem befürchtet SPD-Politiker Ulloth, Wissenbach werde durch eine Mitgliedschaft bevorzugt. Denn im Petitionsausschuss hätten die Berichterstatter gegenüber den Abgeordneten in allen anderen Ausschüssen "ein Mehr an Rechten".

Aber warum soll dieses Mehr an Rechten den derzeit 17 fraktionsangehörigen Ausschussmitgliedern zukommen, aber einem Fraktionslosen nicht? Das fragt sich nicht nur der betroffene Wissenbach selbst.

Zweifel an Begründung

Der ausgeschlossene Politiker kann sich auf eine Einschätzung der Parteienrechtsexpertin Alexandra Bäcker von der Uni Düsseldorf berufen. In ihrem Aufsatz "Fraktionslos, machtlos rechtlos" beschreibt sie Fraktionslose als "politische Randexistenzen", deren Rechtslage generell schutzbedürftig ist. Denn die in Fraktionen organisierten Abgeordneten mit ihrer überwältigende Mehrheit neigen dazu, den Fraktionslosen als Störfall im Betrieb zu betrachten.

Im Gegensatz zum hessischen Landtag sagt Bäcker auf Anfrage des hr: "Grundsätzlich sind die Wünsche der fraktionslosen Abgeordneten zu berücksichtigen." Ablehnungen seien nur aus "triftigen Gründen" denkbar, etwa wenn es einem Politiker an Fachkenntnis fehle.

Zitat
„Den fraktionslosen Abgeordneten weht im Bundestag und den Landtagen seit jeher ein eher kalter Wind entgegen:“ Alexandra Bäcker, Parteirechtsexpertin Alexandra Bäcker, Parteirechtsexpertin
Zitat Ende

Ein anderer sachlicher Ausschlussgrund, den die Juristin gelten lässt, richtet sich an der Arbeitsfähigkeit des Parlaments aus. Denn sie wird in hohem Maße gewährleistet, weil sich Abgeordnete in Fraktionen organisieren. Der Landtag könnte demnach zurecht einen Aufnahmestopp verhängen, "wenn bereits ein oder mehrere Fraktionslose im Ausschuss wären".

"Das ist so haarsträubend"

Nichts davon trifft im Falle Wissenbachs zu. So gesehen stünden seine Chancen vielleicht nicht schlecht, gegen den Landtag eine Verfassungsklage zu gewinnen. An den Gang zum Hessischen Staatsgerichtshof und ein "Wissenbach"-Grundsatzurteil hat er anfangs auch gedacht.

Bis zu einer endgültigen Entscheidung wäre die Legislaturperiode aber ohnehin vorbei. Dem nächsten Landtag wird Wissenbach, der sich dem konservativen "Bündnis Deutschland" angeschlossen hat, wohl nicht mehr angehören. Und als Rechthaber und unerwünschter Gast wolle er ohnehin nicht im Kreis der Ex-Kollegen arbeiten.

Also hofft Wissenbach auf Einsicht und eine Korrektur der seiner Meinung nach verfassungswidrigen Praxis. Deren Widersinn sei doch offenkundig. "Wenn ich wieder in die AfD eintreten würde, dürfte ich auch wieder in den Petitionsausschuss. Das ist so haarsträubend, das kann doch keiner gewollt haben."

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