Lilien-Jubel nach dem Sieg gegen Heidenheim

Massen-Abgänge, Fehlstart, Stürmerfluch, Topspiel-Angst: Die Liste der Rückschläge, die Darmstadt 98 in dieser Saison einstecken musste, ist lang. Doch diese Lilien sind unkaputtbar. Und könnten nun mit dem Bundesliga-Aufstieg belohnt werden.

Audiobeitrag

Audio

Philip Tietz: "Noch nie so einen Zusammenhalt erlebt"

Stürmer Phillip Tietz heizt das Stadion ein.
Ende des Audiobeitrags

Wie oft sie in dieser Saison schon totgesagt wurden, können sie beim SV Darmstadt 98 wahrscheinlich gar nicht mehr selbst zählen. Immer wieder hieß es: Jetzt packen sie es nicht mehr. Weil nicht sein konnte, was kein Außenstehender versteht: dass das kleine Darmstadt 98 den großen Platzhirschen Werder Bremen, Schalke 04 oder Hamburger SV einen Aufstiegsplatz streitig macht.

Vor und kurz nach Beginn der aktuellen Saison im Sommer 2021 sah die Lage sogar richtig düster aus. Einige Fußball-Experten befürchteten gar, dass die Lilien in Abstiegsnot geraten könnten. Bekanntlich kam alles ganz anders. Die Gründe liegen ganz tief verwurzelt im Team selbst. "Der Zusammenhalt in der Mannschaft ist wirklich extrem groß. Das merkt man in vielen Situationen auf dem Platz, aber auch abseits des Rasens", sagte Lilien-Manager Carsten Wehlmann dem hr-sport.

Spieler- und Trainerflucht ließ die Alarmglocken schrillen

In der Sommerpause setzte praktisch eine Massenflucht aus Darmstadt ein: Trainer Markus Anfang, die Defensiv-Strategen Victor Palsson und Nicolai Rapp, sowie die Innenverteidiger Immanuel Höhn und Lars Lukas Mai verließen die Lilien. Vor allem der Abgang von Torjäger Serdar Dursun, der am vergangenen Wochenende vor dem 6:0-Kantersieg gegen Aue mit viel Applaus nachträglich verabschiedet wurde, schmerzte. Alle waren weg.

Der heftigste Nackenschlag blieb aber der Umstand, dass Darmstadt 98 geschmeidige zwei Wochen vor dem Trainingsstart ohne Coach dastand. Dass sich der Anfang-Abgang im Nachhinein - vor allem wegen dessen Impfpass-Affäre - als Glücksfall erwies, konnte zu diesem Zeitpunkt keiner ahnen. Auch nicht, wie erfolgreich sein Nachfolger Torsten Lieberknecht bei den Lilien einschlagen würde. Lieberknecht passt wie ein Deckel auf den Topf Darmstadt 98, hieß es bald. Und genauso ist es noch heute. Der 48-Jährige passt durch seine natürliche Art, seine unglaubliche Fußball-Begeisterung und sein Wissen perfekt zu den Lilien.

Auch wenn der Saisonstart in die Hose ging - was an Corona lag. Die Top-Elf befand sich in Quarantäne, eine Rumpfelf verlor die ersten beiden Liga-Spiele. Doch eines passierte nicht: Es wurde nicht gejammert. Lieberknecht lebte das vor. Auch das zeichnete die Lilien während der gesamten Saison aus. Und aus Rumpfelf und Stammelf wurde eine Mannschaft. Manager Wehlmann fand tollen Ersatz für die abgewanderten Spieler.

Torjäger-Krise und Topspiel-Allergie

Im Winter brach aber einmal mehr eine kleine Krise aus. Genauer gesagt: eine Stürmerkrise. Luca Pfeiffer und Phillip Tietz, die zuvor die zweite Liga kurz und klein geschossen hatten, trafen plötzlich nicht mehr. Das Tor war wie vernagelt. Tietz blieb drei Monate ohne eigenen Treffer, Pfeiffer sogar über vier Monate. Umgeworfen hat das die Lilien aber nicht. Es trafen halt andere wie der aktuell verletzte Stürmer Aaron Seydel.

Darmstädter Jubel nach Sieg bei St. Pauli

Und dann entwickelten die Lilien im Winter und im Frühjahr eine echte Topspiel-Allergie. 0:5 gegen den HSV, 0:1 gegen Werder Bremen und dann im April - besonders schmerzhaft - 1:3 in Nürnberg und 2:5 gegen Schalke. Wieder wurden Unkenrufe laut, getreu dem Motto: Wer keine Topspiele gewinnen kann, steigt auch nicht auf. Die Lilien schüttelten sich, gewannen beim 2:1 auf St. Pauli ein Topspiel und waren wieder mittendrin im Aufstiegskampf.

Die Mentalitätsmonster vom Bölle

Diese Lilienmannschaft entwickelt aus sich heraus eine unglaubliche Kraft. "Ich habe in meiner Profi-Karriere noch nie erlebt, dass man so eine Mannschaft um sich herum hat, bei der man sich auf jeden verlassen kann", schwärmte Stürmer Tietz. Die Ansprache ist locker, der Fokus gigantisch. Alles für das Ziel: Bundesliga-Aufstieg.

Trainer Lieberknecht hilft da unglaublich. Er entwickelt von Spiel zu Spiel das Gewinner-System. Mit den Spielern, nicht für sie. Und dann ist da noch die Unterstützung von ganz oben, durch den verstorbenen Lilien-Fan Jonathan "Johnny" Heimes. Schon beim sensationellen Durchmarsch von der 3. Liga in die Bundesliga von 2014 bis 2015 spielte Johnny eine große Rolle. Damals lernten die Lilien-Routiniers wie Tobias Kempe Johnny noch persönlich kennen.

Seine "Du musst kämpfen"-Armbänder helfen auch jetzt im Aufstiegskampf. "Ich finde die Geschichte extrem bemerkenswert", so Tietz. Er selbst zieht daraus persönlich Kraft. Wenn man ein Spiel wählen sollte, das die Stehauf-Mentalität der Lilien am besten beschreibt, wäre es wohl das Heidenheim-Heimspiel. Nach 0:2-Rückstand gab es dort einen 3:2-Sieg. Eines der Tore schoss Tietz - nach drei Monaten Torblockade.

Andere springen in die Bresche

Es gibt eine Fußball-Phrase: Du brauchst mehr als eine Elf, der ganze Kader ist wichtig. Im Profi-Fußball ist das oft nur eine hohle Phrase, bei den Lilien nicht. Ohne die, die von außen kommen, würde Darmstadt 98 jetzt nicht um den Aufstieg kämpfen. Als das Stürmer-Duo Pfeiffer/Tietz ihre Torblockade hatte, traf Seydel. Gar fünfmal zwischen Ende Januar und Anfang April.

Videobeitrag

Video

Highlights: Darmstadt - Aue

highlights
Ende des Videobeitrags

Als im Februar beim Spiel in Dresden die Abwehr wackelte, half Jannik Müller entscheidend mit, den Sieg zu sichern. Oder Braydon Manu, der kleine Knipser mit dem Anglerhut. Lange nur Ersatz, war er mit seinen Toren und Vorlagen maßgeblich an den Siegen gegen Kiel und Aue beteiligt.

Sollte man das mit dem Zusammenhalt und der Breite des Kaders in einer Szene beschreiben, wäre es das Tor zum 5:0 gegen Aue: Luca Pfeiffer hätte den Ball leicht und locker selbst ins Tor schießen können. Doch der Torjäger dachte nicht an sich, sondern an das Team. Er legte den Ball in die Mitte, der kurz zuvor eingewechselte Mathias Honsak traf. So ticken die Lilien. Am Freitag beim schweren Auswärtsspiel in Düsseldorf (18.30 Uhr) können sie den nächsten großen Schritt Richtung Bundesliga-Aufstieg machen.

Weitere Informationen Ende der weiteren Informationen