Alexander Brunst von Darmstadt 98

Alexander Brunst von Darmstadt 98 kam mit enormen motorischen Einschränkungen auf die Welt, seine Kindheit war geprägt von Ängsten. Wie er es trotz seiner Probleme in die Bundesliga geschafft hat, erzählt er im Interview.

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Lilien-Keeper Alexander Brunst blickt auf Kindheit zurück

Lilien-Keeper Alexander Brunst
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Alexander Brunst von Darmstadt 98 ist der Bundesliga-Torwart, der früher nicht fangen konnte. Der 28-Jährige hatte als Kind große Probleme mit der Bewältigung des Alltags und hinkte in der Entwicklung stark hinterher. Dass er Ende November beim Auswärtsspiel der Lilien in Freiburg (1:1) tatsächlich sein Bundesliga-Debüt feierte, ist der Höhepunkt einer unglaublichen Geschichte.

Im Interview mit dem hr-sport spricht Brunst über die therapeutische Wirkung von Fußball, Bolzplatz-Glück und eine Zeitraffer-Erfahrung.

hessenschau.de: Herr Brunst, wann haben Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben einen Ball gefangen?

Alexander Brunst: Das müsste irgendwann in der D- oder E-Jugend gewesen sein. Ich kann mich nur noch bedingt an Teile meiner Kindheit erinnern. Es war aber auf jeden Fall sehr viel später als bei anderen Kindern.

hessenschau.de: Warum ich die Frage stelle: Sie haben nach Ihrem Bundesliga-Debüt erzählt, dass Sie eine schwere Kindheit hatten. Was genau heißt das?

Brunst: Ich bin geboren mit Fein- und Grobmotorik glatt Null. Die war einfach nicht vorhanden. Ich konnte erst mit zwei Jahren einzelne Wörter sprechen und ein bisschen gehen. Gehen war brutal schwierig für mich, ich bin ständig umgefallen. Greifen oder fangen konnte ich sowieso nicht. Wir waren damals bei mehreren Ärzten und haben uns Meinungen eingeholt. Da wurden verschiedene Tests durchgeführt, bei denen ich immer durchgefallen bin. Ich musste alles hart erlernen.

hessenschau.de: Sie haben auch erzählt, dass Sie nicht allein sein konnten.

Brunst: Ich hatte mit vier Jahren einen schlimmen Rutschunfall, die Narbe sieht man heute noch. Danach fingen krasse Ängste bei mir an. Ich konnte nicht allein in einem Raum sein und allein spielen. Allein schlafen ging sowieso nicht. Ich habe lange gemeinsam mit meinem größeren Bruder in einem Zimmer geschlafen. Ganz allein zu Hause war ich zum ersten Mal mit neun oder zehn Jahren. Das waren alles Faktoren, die mein Leben alles andere als leicht gemacht haben.

hessenschau.de: Inwiefern hat das alles Ihre Familie belastet?

Brunst: Meine Eltern mussten viel aushalten, wir wurden viel belächelt. Was meine Eltern - und vor allem meine Mutter - geleistet haben, ist unglaublich. Sie hat normal gearbeitet, ist danach mit mir zu Therapien und Ärzten gefahren. Meine Eltern hatten es wirklich nicht leicht. Ich bin Ihnen unfassbar dankbar.

hessenschau.de: Wie haben Sie Ihre Probleme in den Griff bekommen?

Brunst: Ich hatte bis zu meinem zwölften Lebensjahr Physio- und Ergotherapie. Da waren Kinder mit ähnlichen Problemen, wir haben zusammen spielerisch an den Einschränkungen gearbeitet. Irgendwann war meine Therapie dann der Fußball. Meine Mutter hat mich trotz aller Skepsis auf den Fußballplatz geschickt. Da haben natürlich dann viele gesagt: "Was will der denn jetzt hier?" Aber meine Mutter hat darauf nicht gehört und das durchgezogen, das hat mir unheimlich geholfen.

hessenschau.de: Wie kommt man auf die Idee, wenn man kaum laufen und nicht fangen kann, Fußball zu spielen und dann auch noch Torwart zu werden?

Brunst: Ich komme glücklicherweise noch aus einer Generation, in der man jeden Tag von früh bis spät draußen war. Da mein älterer Bruder auf mich aufpassen musste, hat er mich mit zum Bolzplatz genommen und da musste halt irgendeiner ins Tor. Das war dann meistens ich. Das war zwar am Anfang nicht besonders gut und technisch alles andere als sauber, aber ich hatte absolut keine Angst vor Bällen und dazu einen enormen Ehrgeiz. Ich wollte mich unbedingt immer weiter verbessern. Mal wurde ich angeschossen, mal habe ich irgendwie einen gehalten. Und so ging es dann Stück für Stück voran.

hessenschau.de: Es ging sogar so gut voran, dass Sie mit 13 Jahren zum Hamburger SV gewechselt sind. Mit zwei Jahren konnten sie nicht laufen, elf Jahre später waren sie dann der beste Torhüter in Ihrer Altersklasse in der Region. Wie ist das möglich?

Brunst: Ich wurde in der D-Jugend vom HSV zu einem Talentcamp eingeladen. Da waren insgesamt 100 Kinder, und am Ende wurde genau einer genommen: Das war ich. Gewisse technische Abläufe waren bei mir da zwar immer noch nicht einwandfrei. Aber die haben meinen unbedingten Willen gesehen. Das hat gereicht.

hessenschau.de: Und der Aufstieg ging noch weiter. Sie sind tatsächlich Profi geworden und haben Ende November im Trikot von Darmstadt 98 ihr Bundesliga-Debüt gefeiert. Ein Bundesliga-Torwart, der früher nicht fangen konnte. Das glaubt einem doch kein Mensch.

Brunst: Ohne die bedingungslose Liebe und Unterstützung meiner Eltern wäre das nicht möglich gewesen. Sie haben ihre eigenen Interessen hintenangestellt und alles für mich getan. Ich hoffe, dass das auch anderen Menschen mit ähnlichen Problematiken Mut macht: Im Leben ist nichts unmöglich, wenn du bereit bist, alles dafür zu tun.

hessenschau.de: Wie haben Sie Ihr Premieren-Spiel in der Bundesliga erlebt?

Brunst: Das waren brutale Emotionen. Ich habe am Freitagmorgen erfahren, dass Marcel Schuhen ausfällt und ich spielen werde. Ich habe dann direkt meine Eltern angerufen, das war unglaublich emotional. Wir haben diesen Weg noch einmal Revue passieren lassen, was alles passiert ist. Das wussten auch nicht viele. In meinem Leben und meiner Karriere sind viele Tränen geflossen. Im Spiel habe ich dann jeden Ballkontakt und jeden Pass komplett genossen und alles aufgesaugt.

hessenschau.de: Wie war es, als das Spiel vorbei war?

Brunst: Nach Schlusspfiff ist mein ganzes Leben in zehn Sekunden noch einmal an mir vorbeigeschossen und ich habe mir gedacht: 'Verdammt, was ich alles durchmachen musste. Und jetzt stehe ich hier und habe mein erstes Bundesliga-Spiel gemacht, wovon Millionen Menschen träumen.' Das war bei aller Demut ein geiler Moment, den ich nie vergessen werde.

hessenschau.de: Herr Brunst, kann man es ohne Talent bis in die Bundesliga schaffen?

Brunst: Das klingt zwar komisch, aber ich hatte trotz meiner Schwierigkeiten ein gewisses Talent. Das braucht man schon, um diesen Weg zu gehen. Was man aber sagen muss: Ich war schon immer unfassbar ehrgeizig, das war nicht normal für einen kleinen Bub. Das hat mich geprägt und so bin ich hervorgestochen. In meiner Jugendzeit waren viele technisch besser als ich. Bei den anderen sah es schön aus, bei mir manchmal nicht so schön. In Sachen Eleganz war ich immer Letzter. Sobald es aber darum ging, über die Grenze zu gehen, war ich die Nummer eins. Klar ist: Harte Arbeit schlägt Talent. Wenn du mehr machst als die anderen, wirst du früher oder später belohnt. Das war und ist mein Weg.

Das Gespräch führte Mark Weidenfeller