Muslima mit Kopftuch steht vor einem Bücherregal

Die Zahl politisch motivierter Straftaten ist in Deutschland so hoch wie lange nicht mehr. Doch Vorurteile und Ausgrenzung schlagen sich nicht nur in Gewalt nieder. Hier berichten zwei Muslime aus Marburg von ihren Erfahrungen im Alltag.

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Bericht zur Muslimfeindlichkeit

Bericht zur Muslimfeindlichkeit
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"Es ist immer noch so, dass ich mich an manchen Orten fremd fühle", sagt Loka Abdulatif. Die 22-Jährige ist in Deutschland geboren, in Deutschland sozialisiert und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie studiert in Marburg Pharmazie und wohnt im Wohnheim nahe der Moschee. Mit ihrem Kopftuch - dem sogenannten Hijab - ist sie weithin als Muslima erkennbar.

Lokas Eltern sind Einwanderer und sprechen nicht gut Deutsch. In ihrer Jugend begleitete sie deshalb ihren kleinen Bruder zu Elternsprechtagen in der Schule. Warum sie so gut Deutsch spreche, habe die Lehrerin verwundert gefragt, berichtet Loka.

Sie habe nicht gewusst, wie sie darauf antworten solle. Auch heute werde sie im Alltag noch oft in übertrieben langsamem Deutsch oder auf Englisch angesprochen. So wie ihr geht es vielen Frauen, die ein Kopftuch tragen. 

Muslima mit Kopftusch sitzt am Schreibtisch, im Hintergrund sieht man ein Bücherregal.

Bericht zur Muslimfeindlichkeit in Deutschland: “Strukturelles Problem” 

Allein in Hessen leben mehr als 600.000 Muslime. Viele von ihnen erleben Diskriminierung jeden Tag am eigenen Leib. Antimuslimischer Rassismus - oder Muslimfeindlichkeit - ist in Deutschland ein strukturelles Problem, wie aus dem Expertenbericht des Bundesinnenministeriums hervorgeht, der Ende Juni veröffentlicht wurde.

Nach dem rassistischen Anschlag in Hanau im Februar 2020 hatte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) den "Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit" (UEM) eingerichtet. In den vergangenen drei Jahren hat der UEM die verschiedenen Erscheinungsformen von Muslimfeindlichkeit in Deutschland analysiert und nun in seinem Bericht vorgestellt.

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„Als Frau, die das Hijab trägt, fühlt man sich oft wie eine Zielscheibe.“ Loka Abdulatif Loka Abdulatif
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Dabei war 2022 ein Rekordjahr - mal wieder: In Deutschland gab es so viele Straftaten mit politischem Hintergrund wie seit 20 Jahren nicht mehr, ein Großteil aus rechtsextremen Motiven. Die Entwicklung ist einer der Gründe, weshalb in Marburg demnächst Berater gegen Rechtsextremismus in einem deutschlandweit einzigartigen Master-Studiengang ausgebildet werden.

Hessen: Anstieg bei Angriffen auf religiöse Repräsentanten

In Hessen zeigt ein Blick in die Statistik der "Politisch motivierten Kriminalität" einen Anstieg bei den Angriffen auf religiöse Repräsentanten. Auf hr-Anfrage bestätigte eine Sprecherin des Hessischen Landeskriminalamtes insgesamt 28 Angriffe auf Repräsentanten islamischer Glaubensgemeinschaften. Noch 2019 hatte es keinen einzigen gegeben.

Die Zahlen der übermittelten Straftaten gegen Muslime mit dem Merkmal "Hasskriminalität" und dem Zusatz "islamfeindlich" sind laut Auswertung des Hessischen Kriminalamtes in den vergangenen drei Jahren rückläufig und liegen nach 43 Fällen in 2021 und 66 Fällen in 2020 mit 35 übermittelten Fällen auf dem ungefähren Niveau von 2019 (37 Fälle).

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Kritik: Radikale Zuspitzung des negativen Islambildes

Die Frankfurter Politologin Saba-Nur Cheema hat den Bericht der UEM mitverfasst. Sie leitet derzeit ein Forschungsprojekt für das Bundesfamilienministerium und war zuvor jahrelang Pädagogische Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank.

Cheema beobachtet, dass Muslime in Deutschland noch immer stigmatisiert würden. Der Islam habe seit Jahrzehnten einen schlechten Ruf und werde vor allem mit Rückständigkeit verknüpft. "Es gibt eine radikale Zuspitzung des negativen Islambildes, und es gibt keine neutralen oder positiven Bilder", sagt Cheema.

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„Es gibt ein großes gemeinschaftliches 'Wir', und die Muslime gehören erstmal nicht dazu.“ Saba-Nur Cheema Saba-Nur Cheema
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Damit würden Muslime im Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt. Das wiederum könne zu Diskriminierung und Gewalt führen.

Eine EU-Erhebung aus dem Jahr 2018 zeigt die Dimension europaweit: Etwas mehr als die Hälfte der Muslime fühlte sich demnach bei der Wohnungssuche diskriminiert, etwas weniger als die Hälfte bei der Arbeitssuche. 39 Prozent erfuhren Diskriminierung im täglichen Leben - und rund ein Viertel hassmotivierte Belästigungen.

Karim Fereidooni (l-r), Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum, Yasemin El-Menouar, Senior Expertin bei der Bertelsmann Stiftung und Projektleiterin des Religionsmonitors, Özcan Karadeniz, Geschäftsführer des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften e. V. in Leipzig, Bundespräsident Steinmeier, Kai Mohammed Fuad Hafez, Professor für Kommunikationswissenschaften mit dem Schwerpunkt auf der Analyse von Mediensystemen und Kommunikationskulturen an der Universität Erfurt, Karima Benbrahim, Leiterin des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e. V. in Nordrhein-Westfalen, Mathias Rohe, Professor und Lehrstuhlinhaber für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlagen, Saba-Nur Cheema, Publizistin, Antirassismus-Trainerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Anja Middelbeck-Varwick, Dekanin des Fachbereichs Katholische Theologie und Professorin für Religionstheologie und Religionswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Christine Schirrmacher, Professorin für Islamwissenschaften am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn und Professorin für „Islamic Studies“ an der Evangelischen Theologischen Faculteit in Leuven/Belgien

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Bombendrohung beim Zuckerfest

Auch Fadi Einuz musste diese Erfahrung machen. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Moschee in Marburg. Nach einer Bombendrohung beim Zuckerfest wurde er dieses Jahr im Netz von Rechtsradikalen bedroht.

Sein Name sei auf der Seite des III. Wegs, einer rechtsextremen und neonazistischen Kleinpartei, erschienen: "Das hat was mit mir gemacht", erinnert sich Einuz. Er sagt: "Fremdheit ist etwas, das man ständig bekommt. Ich muss mich immer rechtfertigen, dass ich zu Deutschland gehöre. Dabei bin ich hier geboren, ich bin hier aufgewachsen."

Hijab als "Projektionsfläche für antimuslimische Einstellungen

Loka hat Gewalt und Bedrohung persönlich noch nicht erlebt, auf die Straße geht sie dennoch mit einem unguten Gefühl. Als Frau, die Hijab trägt, fühle sie sich oft als Zielscheibe und rechne jederzeit mit Gewalt, erzählt sie, "das ist beängstigend und ich wünschte, es wäre nicht so". 

Der Bericht des Bundesinnenministeriums bestätigt, dass "rassistische und rechtsextreme Gewalt besonders wegen der Sichtbarkeit eines Hijabs" gegen Frauen gerichtet wird. Der Hijab diene dabei häufig als Projektionsfläche für antimuslimische Einstellungen, heißt es weiter. 

Wunsch: Mehr Offenheit bei Themen wie Gebet und Fastenzeit

Obwohl er ein Mann ist, hat Fadi Einuz die Vorbehalte gegen das Kopftuch auch miterlebt. Er war 14 Jahre alt, als er seine Mutter bei einer Wohnungsbesichtigung begleitete. Die potenzielle Vermieterin sprach nur mit einer Kollegin der Mutter, die kein Kopftuch trug. "Meine Mutter hat mich dann gefragt. Warum hat sie mit ihr gesprochen und nicht mit mir", erinnert er sich an die Situation.

Zugleich sagt Fadi Einuz: "Gott sei Dank haben wir in Marburg eine sehr offene Gemeinschaft." Es gebe einen großen Zusammenhalt zwischen Kirchengemeinschaften, der jüdischen Gemeinde und der Stadtpolitik vor Ort. "Auch wenn du das Gefühl bekommst, dass du fremd bist - du bist nicht fremd. Das gibt einem Halt."

Muslim steht in leeren Gebetsraum
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