Ein Dudelsackspieler in Uniform steht vor dem Gedenken zum Volkstrauertag

Das Gedenken einer Reservistenkameradschaft am Volkstrauertag bringt Witzenhausen-Gertenbach alljährlich in Aufruhr. Im Fokus steht ein bekanntes AfD-Mitglied. Ob das Pflanzen eines "antifaschistischen Apfelbaums" den Ort nun befrieden kann?

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Ein Apfelbaum für Gertenbach

Die Kulturinitiative in Gertenbach mit dem Korbinianapfelbaum
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Kirchenglocken im nordhessischen Gertenbach (Werra-Meißner) läuten am Volkstrauertag zum sonntäglichen Gottesdienst. Pfarrerin Heike Fehling ermahnt in ihrer Predigt die kleine Gemeinde, sich auszusöhnen und bittet auch Gott um Hilfe:

"Gib, dass wir nicht auseinanderfallen in unterschiedliche Gruppen. Gib, dass wir immer wieder das suchen, was als Bestes, in diesem Fall Dorfbestes dient." Die Gemeinde stimmt das Kyrie eleison an. Herr, erbarme Dich.

Antifa und "die Zugezogenen"

Bei der Frage, wie ein angemessener Umgang mit dem Volkstrauertag aussieht, gibt es verschiedene Meinungen in Gertenbach. Bei einem der letzten Gedenken im Dorf beschallten Nachbarn die versammelte Reservistenkameradschaft Werra Gertenbach mit einem Lied der Berliner Punkband Egotronic: "Wer wird denn rumstehn, wir wolln' euch tanzen sehn, heute heißt die Devise, Raven gegen Deutschland."

Im Folgejahr hatte das Gedenken zum Volkstrauertag Polizeischutz. Bei einigen im 1.000-Einwohner-Dorf, sitzt der Stachel noch tief. Ortsvorsteher Lothar Heuckeroth, Reservist und Feuerwehrmann, sah sich und seine Kameraden als Nazis diffamiert. "Hass, Hass, Hass" habe es über die Gedenkenveranstaltung geschallt, berichtet er immer noch aufgebracht.

Offiziell heißt es im Refrain "Bass, Bass, Bass", aber im musikalischen Angriff ging das wohl unter. Heuckeroth will, dass Gertenbach eine Einheit ist, aber diese Aktion habe gespalten. Die Nachbarn, die Heuckeroth heute noch als "Antifa" oder "Zugezogene" bezeichnet, kassierten wegen ihrer lauten Musik eine Anzeige, das Verfahren wurde eingestellt.

Anzeige wegen "Nazi"-Mails

Dieses Jahr soll alles anders laufen. Die Reservistenkameradschaft Werra-Gertenbach gedenkt am Morgen neben dem Ehrenmal auf dem Gertenbacher Friedhof der Gefallenen der Weltkriege. Eine Kulturinitiative will am Nachmittag einen Apfelbaum als Zeichen für Frieden und Demokratie pflanzen. Das Dorf solle nicht gespalten werden, heißt es an diesem Sonntag von allen Seiten, die mögliche Spaltung ist so trotzdem ständig Thema.

Otto Baumann ist der einzige, den Pfarrerin Fehling in ihrer mahnenden Predigt sogar namentlich erwähnt. Baumann ist AfD-Mitglied, Jurist, eine zentrale Figur in Gertenbach. Außerdem ist er Mitglied der Reservistenkameradschaft Werra-Gertenbach und zur Zeit auch Anwalt in eigener Sache: Er vertritt sich selbst bei einer Klage gegen den Reservistenverband Deutschland, der ihn im Sommer rausgeworfen hat.

Und er geht mit einer Unterlassungsklage gegen einen Dorfbewohner vor, der in einer privaten Mail eine Person gewarnt hatte, Baumann nicht als Anwalt zu engagieren, weil dieser "mit anderen Nazis zusammen" den Flügel der AfD gegründet habe. Die "Nazi"-Bezeichnung will Baumann nicht auf sich sitzen lassen, er streitet auch um andere Formulierungen in der Mail. Ein Urteil steht noch aus.

Mit Dudelsack und Tarnfleck zum Friedhof

Nach dem Gottesdienst übernimmt Baumann vor der Kirche die Rolle des Dirigenten, sie passt zu dem Bild, das man im Dorf von ihm zeichnet: respektiert, ein Mann mit Einfluss. Baumann ist größer als die meisten anderen, mit seinen weißen Haaren ragt er gut sichtbar aus der Gruppe heraus. Er organsiert die Aufstellung der kleinen Prozession, mit der Reservistenkameradschaft und Feuerwehr zum Friedhof ziehen sollen.

Vorweg die Fahnen, Baumann winkt nach dem im Flecktarn gekleideten Dudelsackspieler, er solle weiter nach vorne kommen. Dahinter läuft Baumann selbst, anders als im vergangenen Jahr ohne Uniform. Sein Stellvertreter bei den Reservisten läuft vorne und hält die Rede auf dem Friedhof – auch das ist sonst Baumanns Job.

Der Reservistenverband der Bundeswehr teilte dem hr mit, dass die Reservistenkameradschaft Werra-Gertenbach ihre Veranstaltung zum Volkstrauertag nicht unter dem Dach des Verbandes abhalte. In der Signatur der E-Mail vom Verband prangt der Schriftzug "Wir gegen Extremismus". Offiziell hat sich der Reservistenverband nicht zu den Gründen geäußert, weshalb Baumann rausgeworfen wurde.

Baumann und die AfD

Offenbar spielen aber Baumanns Aktivitäten bei der AfD eine Rolle. Er unterzeichnete als einer der ersten die Erfurter Resolution, die als eine Art Gründungsurkunde des AfD-Flügels um Björn Höcke gilt. Der Verfassungsschutz stufte den Flügel als "gesichert rechtsextremistisch ein", 2020 löste sich der Verbund offiziell auf. Baumann sagt, er sehe sich in der Mitte der AfD, von Hause aus sei er Sozialdemokrat. Aus der SPD trat er allerdings aus.

Baumann hält seinen Rauswurf aus dem Reservistenverband für ungerechtfertigt, er wertet ihn als Bestrafung einer Gesinnung. Im Frühjahr soll der Fall in Berlin verhandelt werden. "Ich fühle mich unschuldig", erklärt Baumann beim Umtrunk nach dem morgendlichen Gedenken. Er habe sich als aktiver Reserveoffizier und in der Reservistenkameradschaft verdient gemacht und sei "eine der großen Stützen" in der Region gewesen.

Marschieren mit Nazis?

Die Frankfurter Rundschau berichtete, dass Baumann während der Corona-Pandemie in einer Chatgruppe die Bundesrepublik als "Scheindemokratie" bezeichnet haben soll. Als "Spaziergänger" hat er auch gegen die Impfung und andere Corona-Maßnahmen demonstriert. Die "Herrschenden" könnten Bewegungen wie die der Corona-Skeptiker nicht gebrauchen, deswegen würden diese diskreditiert, erklärt Baumann seine Sicht.

Bereits Ende 2011 war die von Baumann geführte Marschgruppe "Hürtgenwald" in den Fokus geraten, als das Nachrichtenmagazin Stern aufdeckte, dass zwei Mitglieder der nordhessischen Neonazi-Szene zuzurechnen sind. Er habe davon nichts gewusst, behauptet Baumann. Beim Umtrunk scharen sich um ihn Menschen, wo er geht und steht. Wenn einer sich von ihm verabschiedet, ruft Baumann hinterher: "Bleib aufrecht!"

Apfelbaumpflanzen als "aggressive" Aktion

Das Apfelbaumpflanzen hätte nach seinem Willen besser an einem der anderen der 364 Tage im Jahr stattfinden sollen. So wird der Apfelbaum, der Gertenbach befrieden sollte, doch zum Zankapfel: "Nachdem wir das 20 Jahre anders gemacht haben, wirkt das kontraproduktiv, aggressiv", empört sich Reservist Baumann.

Helmut Wolter von der "Kulturinitiative offenes Gertenbach" hat die Apfelbaum-Aktion zum Volkstrauertag zusammen mit seinen Mitstreitern organisiert. "Wir wollten ein Zeichen in unserer Sprache setzen, um Gedenken anders zu denken", sagt Wolter. Es sei in Ordnung, verteidigt er die Aktion, dass am Morgen das Gedenken der Reservisten stattfinde und am Nachmittag die Apfelbaumaktion. Beides stünde nicht in Konkurrenz zueinander.

Ein Zeichen gegen rechts

Schon das Wort "antifaschistisch" sei schwierig im Dorf, sagt Wolter. Mit solchen Begriffen spreche man nicht alle an. Auch deswegen gehe es der Kulturinitiative darum, Offenheit zu demonstrieren. Er selbst wolle ein Zeichen gegen einen Rechtsruck im Dorf setzen, sagt Wolter.

Rund 200 Menschen sind auf den Dorfplatz gekommen, es gibt passend zum Anlass mehrere Bleche Apfelkuchen und zur Einstimmung auch wieder ein Lied - ein friedliches obendrein: "Wie mitten in der Stadt ein Baum, habe ich mein Schicksal nicht gewählt, aber wenn man hier schon steht, kann man genauso gut zur Sonne schauen", heißt es darin. Auch Ortsvorsteher Heuckeroth ist eingeladen, er sagt kurzfristig ab.

Ein antifaschistischer Apfelbaum

Der Korbiniansapfelbaum ist noch ein zarter Stamm ohne Blätter, er soll für Frieden und Demokratie stehen. Und der Baum ist ein antifaschistisches Symbol: Sein Name ehrt den Pfarrer Korbinian Aigner, der von den Nationalsozialisten ins KZ Dachau verschleppt wurde, wo er heimlich Äpfel züchtete. Zu seinen Ehren bepflanzt ein Verein nun "antifaschistische Streuobstwiesen" in der Region mit dem Korbiniansapfel - an diesem Sonntag den ersten in Gertenbach. Helfer schaufeln dafür Erde in einen riesigen Pflanztopf.

Der Apfelbaum hat noch keinen festen Platz. Ein Plan, ihn auf dem Friedhof zu pflanzen, wo auch das Ehrenmal für die Gefallenen der Kriege steht, wurde abgelehnt. Die Kirchengemeinde habe argumentiert, Apfelbäume dürften nicht auf Friedhöfen stehen, heißt es von der Initiative. Am Volkstrauertag 2019 wurde allerdings eine von der Reservistenkameradschaft gestiftete Eiche gepflanzt. "Fest verwurzelnd in der heimischen Erde und aufstrebend gen Himmel", wurde der Baum im Gemeindebrief beschrieben.

Wolter von der Kulturinitiative sagt, er sei mittlerweile zusammen mit Ortsvorsteher Heuckeroth auf der Suche nach einem geeigneten Ort. So könnte der Korbinianapfelbaum bald zumindest in der Nähe der Kirche Wurzeln schlagen. Es wäre eine versöhnliche Lösung für das Problem, glaubt Wolter. Wohl ganz im Sinne von Pfarrerin Heike Fehling.

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