Im Bildvordergrund sitzt eine junge Frau an einem Tisch hinter Schulbüchern. Im Bildhintergrund auf der einen Seite die deutsche Flagge, auf der anderen Seite die ukrainische Flagge.

20.000 Schüler sind aus der Ukraine nach Hessen geflüchtet. Neben der deutschen Schule besuchen viele von ihnen den Unterricht in ihrer Heimat. So wie Karina Koshliak in Fuldatal.

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Ukraine-Flüchtlinge - Schule in Hessen und digital in der Heimat

hs 03.05.2023
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Morgens in die deutsche Schule, nachmittags in den ukrainischen Online-Unterricht: Für Karina Koshliak ist das seit über einem Jahr Alltag. Bis zum russischen Angriff auf die Ukraine ging Karina in ihrem Heimatort zur Schule. Dieser liegt rund 80 Kilometer vor der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt. Dann floh sie mit ihrer Mutter und ihren zwei Brüdern vor dem Krieg. Im März 2022 kam die heute 16-Jährige nach Fuldatal (Kreis Kassel).

Karina Koshliak ist eine von rund 20.000 ukrainischen Schülerinnen und Schülern, die seit Kriegsbeginn nach Hessen kamen. Rund 350 von ihnen konnten aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse bereits in den Regelunterricht eingegliedert werden, wie das Kultusministerium in Wiesbaden mitteilt.

Karina besucht derzeit eine neunte Klasse an der Gesamtschule Fuldatal. Sie freut sich, dass sie inzwischen mittlerweile schon recht gut Deutsch spricht. Nachmittags wählt sie sich dann noch in den Unterricht in ihrer alten ukrainischen Schule ein. Die Lage in ihrer Heimatstadt erlaubt es, dass dieser noch angeboten wird.

Für die 16-Jährige ist das eine Doppelbelastung, gewiss. Aber, sagt sie, "ich möchte die ukrainische Schule zu Ende bringen, und dafür muss ich lernen". Wie viele der geflüchteten ukrainischen Kinder und Jugendliche es so halten wie Karina, ist nicht erfasst.

Schulsysteme unterscheiden sich stark

Was die Doppelbeschulung nicht leichter macht: Die Schulsysteme in Hessen und der Ukraine unterscheiden sich stark, wie Karinas Mathematiklehrerin Maria Balakieva sagt. In der Ukraine werde der Wissensstand der Schüler häufiger abgefragt als in Deutschland. An fast jedem Tag gebe es einen Test, ein Diktat oder eine Abfrage, erzählt auch die Schülerin selbst.

An ukrainischen Schulen geht es laut Balakieva viel hierarchischer zu als an hessischen. Wer Karina während des Online-Unterrichts über die Schulter blickt, dem fällt schnell auf: Der Lehrer unterrichtet seine Schülerinnen und Schüler in Hemd, Krawatte und Sakko. Das wirkt sehr förmlich.

Ukrainischer Unterricht könnte Wunden aufreißen

Auch die 16-jährige Schülerin hat die Unterschiede der beiden Schulsysteme schon bemerkt. Für sie sei das, erzählt Karina, eine durchaus interessante Erfahrung. Sie sehe darin eine Chance zur persönlichen Weiterentwicklung.

Allerdings falle es ihr häufig schwer, Inhalte aus dem einen und dem anderen Unterricht miteinander zu verbinden, berichtet sie. Was ihr in ihrer deutschen Klasse entgegenkommt: Vieles, was sie dort beispielsweise in Mathe lernt, hat sie schon in der Ukraine durchgenommen. So kann sie sich mehr auf die ungewohnten Begriffe in der für sie noch neuen Sprache konzentrieren.

Evelyne Raupach vom Fachbereich Mehrsprachigkeit und Sprachförderung der Uni Kassel sieht in der Doppelbeschulung durchaus ein Problem. Die Kinder und Jugendlichen könnten durch die Teilnahme am ukrainischen Unterricht retraumatisiert werden, warnt sie. Der Online-Unterricht werfe das Thema Krieg bei den Schülern immer wieder auf.

Zu wenig Freizeit?

Mit Skepsis beurteilt Raupach auch die zusätzlichen Hausaufgaben im ukrainischen Unterricht. Darin stimmt sie mit dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen, Thilo Hartmann, überein. "Priorität muss ganz klar der reguläre Unterricht in der Schule vor Ort haben", stellt Hartmann klar.

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Doppelbeschulung für ukrainische Kinder in Hessen

Lehrerin Maria Balakieva steht vor einer Tafel im Klassenraum.
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Stimmt schon, erzählt Karina Koshliak, zu ihrem Hobby Balletttanzen komme sie unter der Woche selten. Sie habe oft auch wenig Zeit für ihre Familie oder für Treffen mit Freundinnen und Freunden in Fuldatal. "Meistens mache ich Schulaufgaben", sagt sie.

Doppelbeschulung bietet auch Vorteile

Aber die Situation für die geflüchteten jungen Ukrainerinnen und Ukrainer ist auch schwer: Niemand kann absehen, wann der Krieg in ihrer Heimat endet. Auch Karina weiß nicht, ob und wann sie in die Ukraine zurückkehren kann. Aber für den Fall einer Rückkehr hätte sie eben gern einen ukrainischen Schulabschluss. Daher nimmt sie am Online-Unterricht ihrer Heimatschule teil.

Die Doppelbeschulung ermöglicht es den ukrainischen Schülerinnen und Schülern auch, Kontakte zu ihren Freunden in der Heimat aufrechtzuerhalten, wie auch die Wissenschaftlerin Raupach einräumt. Zudem bleiben die Jugendlichen über den Online-Unterricht der ukrainischen Sprache und Kultur verbunden. Das stellt auch GEW-Chef Hartmann als sinnvoll heraus.

Sonderregelung für Schüler aus der Ukraine

Aufgrund der hessischen Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses (VOGSV) sind die rund 20.000 ukrainischen Schüler hierzulande schulpflichtig. Im vergangenen Jahr stellte sie Kultusminister Alexander Lorz (CDU) mit einer Sonderregelung vom verpflichtenden Unterricht frei. Noch nicht geklärt ist, ob die Ausnahme auch dieses Jahr gilt, wie das Ministerium auf Anfrage mitteilt.

Die Kultusministerkonferenz erlaubte den geflüchteten Schülerinnen und Schülern aus dem Kriegsland zudem, dass sie "auf privater Basis zusätzlich Online-Lernangebote ihres Heimatlandes wahrnehmen und so gegebenenfalls auch nationale Abschlüsse anstreben".

Karina will im kommenden Jahr ihren Abschluss an ihrer ukrainischen Schule machen. In Deutschland wäre sie erst in vier Jahren so weit, sagt die Schülerin. Wo sie später studieren möchte, weiß die 16-Jährige noch nicht. Mit ihrem ukrainischen Abschluss könnte sie an eine Universität in ihrem Heimatland gehen. Reizen würde sie das Fach Internationale Beziehungen, sagt sie.

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