Rechtsextreme Abi-Slogans an Gießener Schule "Fanal dafür, wie sehr wir abgestumpft sind"

In Gießen ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft wegen rechtsextremer Vorschläge für ein Abi-Motto. Dass sich ähnliche Vorfälle an Schulen häufen, merkt auch das Demokratiezentrum Hessen. Dessen Leiter spricht über Abstumpfung - und die Rolle von Social Media.

Eine Person läuft durch einen dunklen Tunnel in Richtung eines hellen Ausgangs. Auf der linken Seite ist eine Betonwand mit einem roten, durchgestrichenen Hakenkreuz bemalt. Rechts sind zwei Personen im Gegenlicht zu sehen. Außerdem ist ein Anarchie-Symbol gezeichnet.
Archivbild Bild © picture-alliance/dpa (Archiv)

Die Wahl eines Abi-Mottos an der Gießener Liebigschule hat die Polizei auf den Plan gerufen. Sie ermittelt wegen des Anfangsverdachts der Volksverhetzung gegen Unbekannt.

Bei der Wahl soll unter anderem die Formulierung "NSDABI - Verbrennt den Duden", die auf die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) anspielt, die meisten positiven Bewertungen erhalten haben. Weitere Vorschläge waren offenbar "Abi macht frei", eine Anlehnung an die Toraufschrift "Arbeit macht frei" an nationalsozialistischen Konzentrationslagern, sowie "Abi Akbar - Explosiv durchs Abi" als rassistischer Spruch. Die Liebigschule sprach von antisemitischen, rassistischen und diskriminierenden Ideen und distanzierte sich "in aller Form von diesen Vorschlägen".

Der Leiter des an der Marburger Universität angesiedelten Demokratiezentrums Hessen, Reiner Becker, beobachtet, dass sich Vorfälle wie an der Gießener Schule häufen. Es gebe eine "Normalität von Diskursen, die wir eigentlich dem Rechtsaußen, dem rechtspopulistischen oder gar dem rechtsextremen Rand zuordnen würden", sagt er im Gespräch mit dem hr.

Reiner Becker
Politikwissenschaftler Reiner Becker, Leiter des Demokratiezentrums im Beratungsnetzwerk Hessen an der Uni Marburg Bild © picture alliance/dpa/Reiner Becker | Christian Griese

hessenschau.de: Was geht Ihnen denn durch den Kopf, wenn Sie solche Abi-Mottos hören?

Reiner Becker: Als ich das in der Presse gelesen habe, war ich persönlich schon entsetzt. Das Abitur wird bei uns seit Jahren immer stärker zelebriert, vom Abi-Gag bis zum Umzug, über ein Motto bis hin zu all diesen Feten, die dann gefeiert werden. Ich fand das - vorsichtig gesagt - sehr, sehr befremdlich.

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Bild © picture alliance/dpa/Reiner Becker | Christian Griese| zur Audio-Einzelseite
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hessenschau.de: Die AfD hat bei der Bundestagswahl bei jungen Wählerinnen und Wählern viele Stimmen geholt. Glauben Sie, das ist nur mit dem TikTok-Effekt zu erklären oder greift das zu kurz?

Reiner Becker: Man kann zwei Punkte hervorheben: Die AfD hat es tatsächlich geschafft, im Vergleich zu allen anderen Parteien im Bundestag, die sozialen Medien für sich zu entdecken und zu nutzen. Die Partei hat viele Formate ausprobiert, hat enorme Reichweiten erzielt, insbesondere auf TikTok. Und man darf wirklich nicht unterschätzen: Es ist ihr gelungen, eine Ansprache gegenüber Jugendlichen zu finden.

Der zweite Aspekt: Insgesamt haben wir in den vergangenen Jahren eine enorme Normalität von Diskursen, die wir eigentlich dem Rechtsaußen, dem rechtspopulistischen oder gar dem rechtsextremen Rand zuordnen würden. Da sind solche Vorfälle wie in Gießen an der Schule fast schon ein kleines Fanal dafür, wie sehr wir uns anscheinend an sehr viele Begriffe, Schlagworte, Provokationen und so weiter gewöhnt haben und abgestumpft sind.

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Solche Vorfälle wie in Gießen an der Schule sind fast schon ein kleines Fanal dafür, wie sehr wir uns anscheinend an sehr viele Begriffe, Schlagworte, Provokationen und so weiter gewöhnt haben und abgestumpft sind. Zitat von Reiner Becker
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hessenschau.de: Wie gehen wir jetzt am besten damit um? Was müssen wir zum Beispiel für Demokratiebildung an Schulen und bei jungen Menschen tun?

Reiner Becker: Insgesamt ist es um die politische Bildung an hessischen Schulen im Ländervergleich gar nicht schlecht bestellt. Aber darauf kann man sich nicht ausruhen, wenn man die Dynamiken und politischen Veränderungen der letzten Jahre beobachtet. Die Schule hat dort einen Auftrag. Aber wir dürfen auch nicht den Fehler machen, die Schule jetzt zum alleinigen Container für alle ungelösten gesellschaftspolitischen Aufgaben zu machen.

Ich würde mir sehr wünschen, wenn es in diesem konkreten Fall nicht bei einer Skandalisierung bleibt, sondern wenn die Schule es schafft, den Vorfall aufzuarbeiten, auch innerhalb der Schulgemeinde. Da lastet jetzt ein enormer öffentlicher Druck auf der Schule. Aber manchmal liegt auch eine Chance darin, nun sehr viel innerhalb des Systems zu lernen, zum Beispiel wie man zukünftig präventiv damit umgeht. So arbeiten wir auch in unseren Beratungsfällen.

hessenschau.de: Das klingt aber ein bisschen reaktiv. Müssten wir nicht mehr tun, um die Menschen in dieser Gesellschaft fit zu machen für das politische System, in dem wir leben?

Reiner Becker: Wir müssten schon sehr lange sehr vieles tun. Das Thema Social Media hat eine solche enorme Bedeutung und müsste meiner Meinung nach auch unabhängig von AfD und solchen Vorfällen eine ganz andere Relevanz in der Demokratiebildung, in der politischen Bildung an Schulen haben. Aber nicht nur dort. Was wirkt ist, wenn im System etwas implementiert wird. Was nicht wirkt, ist der einmalige Projekttag, der jetzt möglicherweise folgt.

Zitat
Was wirkt ist, wenn im System etwas implementiert wird. Was nicht wirkt, ist der einmalige Projekttag, der jetzt möglicherweise folgt. Zitat von Reiner Becker
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Wir haben zunehmend stabil Anfragen aus Schulen, weil es Vorfälle gibt - und das nicht nur seit zwei Jahren. Schule ist gefragt als Ort, wo jeden Tag aus jeder sozialen Schicht Jugendliche zusammenkommen, mit diesem Phänomen umzugehen. Da gibt es keine Schnellschüsse.

Das Gespräch führte hr1-Moderatorin Marion Kuchenny.

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Quelle: hessenschau.de