So viel Hessen-AfD steckt im Verfassungsschutz-Gutachten
Von rassistischen Memes bis Neonazi-Kontakten: Das Verfassungsschutz-Gutachten zur AfD belegt auf 1.108 Seiten verfassungsfeindliche Bestrebungen der Partei. Immer wieder tauchen führende AfD-Politiker aus Hessen darin auf.
Welche Rolle spielen hessische AfD-Politikerinnen und -Politiker in dem jüngsten Verfassungsschutzbericht? Welchen Anteil haben sie an der Hochstufung der Bundespartei als "gesichert rechtsextremistisch" durch die Behörde? Davon kann sich mittlerweile jeder und jede ein eigenes Bild machen: Das Magazin Cicero hat das vertrauliche Gutachten am 13. Mai als erstes Medium vollständig veröffentlicht (Bezahlangebot).
Muslim-, juden- und demokratiefeindliche Aussagen
Brisante Spionagedetails finden sich in dem Dokument nicht. Stattdessen: eine rund 1.000 Seiten lange Liste an Hinweisen, die die Verfassungsschützer in den vergangenen Jahren sammelten. Belege für ein aus Behördensicht verfassungsfeindliches Bestreben innerhalb der AfD, darunter Verunglimpfungen von Muslimen, Verharmlosungen der Shoah oder die Gleichsetzung der Bundesrepublik mit Diktaturen.
Die Bundesbehörde in Köln stützt sich auf öffentlich zugängliche Quellen: Social-Media-Posts, Flyer, Grußwörter, Wahlkampfreden und Medienberichte. Dass die AfD-Rathausfraktion Wiesbaden bereits seit 2021 über die Neonazi-Kontakte ihres Mitarbeiters Sascha Herr informiert war, der erst 2023 nach der Wahl in den Landtag aus der Partei gedrängt wurde, belegen die Verfassungsschützer unter anderem mit einem Artikel von hessenschau.de. Insgesamt fünfmal wird die Nachrichtenseite des hr als Quelle zitiert.
Die im Hauptkapitel ‚E‘ aufgeführten "Belege für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung" beziehen sich größtenteils auf Äußerungen, nicht auf Handlungen. Sie wurden inhaltlich gruppiert: von "A" wie "Antisemitisch konnotierte Codes und Chiffren" bis "Z" wie "Zuschreibung der Absicht zur Übernahme Deutschlands". Viele Aussagen lassen sich mehreren Kapiteln zuordnen.
Halbe Landtagsfraktion findet Erwähnung
In dem Gutachten werden insgesamt 353 Personen aus dem Umfeld der AfD erwähnt, die im Zusammenhang mit "verfassungsfeindlichen Bestrebungen" stünden. Die meisten davon sind Abgeordnete in Landtagen, im Bundestag oder im EU-Parlament. 22 dieser 353 Personen werden der hessischen AfD zugerechnet. Das entspricht in etwa dem Anteil Hessens an der gesamtdeutschen Bevölkerung.
Auffällig dagegen: Knapp die Hälfte der hessischen Landtagsfraktion taucht in dem Bericht auf. Zwölf der 25 Abgeordneten werden genannt, darunter der Fraktionsvorsitzende Robert Lambrou und einer seiner Stellvertreter, Andreas Lichert. Der hessische Landesverband wird seit 2023 vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall geführt.
Verschwörungserzählungen von Christine Anderson
Besonders häufig fällt in dem jüngsten Bericht der Name von Christine Anderson. Rund 20 Beiträge der Europaabgeordneten aus Eschwege werden in dem Gutachten zitiert. Der Verfassungsschutz vermerkte mehrere davon im Abschnitt "Fremden- und minderheitenfeindliche Positionen".
Aussagen über den angeblichen schwedischen "Migranten-Sumpf" oder über den vermeintlichen Zusammenhang von Gruppenvergewaltigungen und Migration entmenschlichten Zugewanderte und verstießen gegen die Menschenwürde, analysieren die Verfassungsschützer.
Im August 2022 twitterte Anderson zu den angeblichen "NWO-Plänen" der "EU-Eliten". Die "New World Order" (NWO) ist das zentrale Schlagwort einer gängigen Verschwörungserzählung über eine autoritäre, meist von angeblichen jüdischen Eliten geführte Weltregierung.
Harder-Kühnel und der "Große Austausch"
Mit über zehn Zitaten liefert auch Mariana Harder-Kühnel der Behörde einiges an Material. Die Rechtsanwältin aus Gelnhausen saß bis 2025 für die AfD im Bundestag. Nach Ansicht des Verfassungsschutzes verbreitete sie in mehreren Beiträgen die rechtsextreme These vom "Großen Austausch", also der angeblichen gezielten Verdrängung weißer Bevölkerungsgruppen.
"Wer vom alten Volk nicht mehr gewählt wird, wählt sich einfach selbst ein neues", schrieb Harder-Kühnel damals mit dem Hinweis auf eine Statistik zum Migrationsanteil in der deutschen Bevölkerung. Ihre These vom "neuen Wahlvolk" wiederholte die damalige stellvertretende AfD-Bundessprecherin auch in Reden und Flyern. Sie sicherte sich damit Einträge im Kapitel "Ethnisch-abstammungsmäßige Aussagen und Positionen".
Wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen fällt Harder-Kühnel in dem Gutachten zudem mit Pauschalisierungen über Zugewanderte auf. Kriminalität, Sozialstaatsabbau, Clanbildung und die Warnung vor einem deutschen Kalifat: In mehreren Reden bediente Harder-Kühnel die gesamte Klaviatur des ausländerfeindlichen Ressentiments.
Co-Landeschef mit rechtsextremen Verbindungen
Als Belege für "verfassungsfeindliche Bestrebungen" dokumentierten die Verfassungsschützer neben Zitaten auch persönliche Verbindungen von AfD-Funktionären zu rechtsextremen Gruppen und Einzelpersonen. Ein Hesse sticht dabei heraus: Andreas Lichert aus Bad Nauheim (Wetterau).
Der Co-Landeschef und stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Landtag war von 2006 bis 2018 Vorsitzender des Vereins für Staatspolitik. Der Verein fungierte als Träger des gesichert rechtsextremen Thinktanks Institut für Staatspolitik um den Verleger Götz Kubitschek. Er wurde im April 2024 aufgelöst.
Wenig später, im August 2024, habe Lichert zudem eine Veranstaltung neurechter Influencer eröffnet, heißt es in dem Bericht: Auf der "Messe des Vorfelds" sei auch das zwischenzeitlich verbotene Compact-Magazin vertreten gewesen. Lichert hält Verbindungen zur Identitären Bewegung und war Mitglied des 2020 formell aufgelösten, rechtsextremen Flügels in der AfD.
Hessisch geprägte Vorfeld-Organisation
Auch der zweite Landeschef, Robert Lambrou aus Wiesbaden, wird in dem Gutachten im Zusammenhang mit einer Vorfeld-Organisation erwähnt: dem Verein Mit Migrationshintergrund für Deutschland, der nicht vom Verfassungsschutz beobachtet, aber in dem Gutachten genannt wird. 2024 wurde er beim Amtsgericht Darmstadt registriert. Lambrou, der Sohn eines Griechen, ist Vereinsvorsitzender. Auch drei andere Vorstandsmitglieder werden der Hessen-AfD zugerechnet.
Die Verfassungsschützer vermuten in dem Verein ein strategisches Feigenblatt. So könne Mit Migrationshintergrund für Deutschland e.V. dazu dienen, die Partei "im Hinblick auf die Anhaltspunkte für völkische und fremdenfeindliche Bestrebungen zu entlasten".
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Im Vergleich der Landesverbände: Platz acht
Insgesamt spielen hessische AfD-Aktivitäten gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung in dem Gutachten eine mittelgroße Rolle. 90-mal wird das Länderkürzel "HE" für Hessen genutzt, im Ländervergleich entspricht das Platz acht von 16. Unrühmlicher Spitzenreiter: Sachsen mit 276 Nennungen, gefolgt von Nordrhein-Westfalen mit 232.
Mit Blick auf die Gesamtpartei kommt der Verfassungsschutz in seinem Gutachten zu dem Schluss, die Einstufung und Beobachtung der AfD als "gesichert rechtsextremistische Partei" sei "verhältnismäßig". Es sei "nicht mehr davon auszugehen, dass es gemäßigteren Kräften in der AfD noch möglich ist, diese festgestellte verfassungsfeindliche Prägung der Gesamtpartei umzukehren".
Bundespartei klagt gegen Hochstufung
Die Partei hat vor dem zuständigen Verwaltungsgericht Köln Klage und einen Eilantrag eingereicht. Sie will dem Inlandsnachrichtendienst gerichtlich untersagen lassen, dass er sie als "rechtsextremistisch" führt, einordnet und behandelt. Der Verfassungsschutz hat die Hochstufung bis zu einer juristischen Klärung im Eilverfahren vorläufig ausgesetzt.
Anm. d. Red.: In einer ersten Version haben wir geschrieben, es gebe zwei AfD-Fraktionsvorsitzende in Hessen. Wir haben die Textpassage korrigiert.