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Darmstädter Forscher untersuchen Wiederaufbau nach Erdbeben

Ein Mann auf einem Moped zwischen Häusertrümmern

Naturkatastrophen dauern oft nur Augenblicke, der Wiederaufbau Jahrzehnte. Welche Prozesse ihn steuern und wie er eine Region verändern kann, untersuchen aktuell Wissenschaftler der Technischen Universität in Darmstadt.

Zehntausende Menschenleben hat das schwere Erdbeben in der Türkei und in Syrien Anfang Februar gefordert. Noch viel mehr haben ihr Zuhause verloren. Weite Landesteile wurden verwüstet, zahlreiche Gebäude zerstört. Der Wiederaufbau wird schwer und langwierig sein.

Doch wie kann und wird dieser Wiederaufbau überhaupt aussehen? Wer ist daran beteiligt? Welche politischen Interessen werden dabei verfolgt? Wie funktioniert humanitäre Hilfe und welche Lehren lassen sich aus solchen Naturkatastrophen für die Zukunft ziehen?

Nach dem Beben ist vor dem Beben

Mit solchen Fragen beschäftigt sich aktuell ein Forschungsprojekt der Technischen Universität (TU) Darmstadt. Es untersucht anhand ausgewählter Erdbeben der zurückliegenden Jahrzehnte die Geschichte humanitärer Hilfe und des Wiederaufbaus nach Naturkatastrophen.

"Nach dem Beben ist vor dem Beben", konstatiert Nicolai Hannig, Professor für Neuere Geschichte an der TU und Leiter des Projekts "Build Back Better!". Es gilt, Fehler der Vergangenheit bei künftigen Ereignissen zu vermeiden. Eigentlich sei das lokale Wissen in Katastrophengebieten seit vielen Jahren sehr ausgeprägt, sagt Hannig.

Die Ärmsten sind am stärksten betroffen

"Es scheitert eben nur an der Umsetzung", so der Professor. Und das sei meist auf die jeweilige politische Lage und gesellschaftliche Verfassung zurückzuführen. "Es fällt auf, dass diejenigen am stärksten von Naturkatastrophen betroffen sind, die ganz unten in der Gesellschaft stehen."

In Ländern wie der Türkei, die immer wieder von Erdbeben heimgesucht werden, habe das mit den Lebensbedingungen zu tun. "Die Ärmsten wohnen tendenziell am ehesten in den Risikogebieten, wo es billiger ist." Ihre Häuser seien zudem nicht optimal gebaut. "Je weiter die soziale Schere auseinander klafft, desto schwieriger wird es, Katastrophenschutz vernünftig umzusetzen."

Neuordnung der Machtverhältnisse

Gezeigt hat sich auch, wie solche Katastrophen genutzt werden, um Machtverhältnisse neu zu ordnen. Julian Schellong, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Projekts, erläutert das am Konflikt im türkisch-syrischen Kurdengebiet. Man sehe, dass der Konflikt nun auf ganz andere Weise geführt werde, sagt er.

So habe etwa der syrische Machthaber Assad durch Sperrung von Grenzen bestimmte Regionen von Hilfslieferungen abschneiden können. "Der schwelende Konflikt wird durch die Katastrophe verstärkt. Solche Dynamiken lassen sich immer wieder beobachten", so Schellong.

Das kulturelle Gedächtnis wird verändert

Schellongs Forschungsschwerpunkt sind aber die Erinnerungspolitik und der Denkmalschutz in Erdbebengebieten. Naturkatastrophen würden auch genutzt, das kulturelle Gedächtnis einer Region zu verändern. Nach dem Erdbeben von 1963 in Skopje im damals sozialistischen Mazedonien sei die zuvor kulturell durchmischte Stadt homogenisiert worden, erklärt Schellong.

"Der Wiederaufbau war geprägt von sowjetischer Architektur. Auch christliche Kirchen wurden wieder aufgebaut." Gleichzeitig sei islamische Architektur gezielt vernachlässigt worden, so Schellong. So würden Naturkatastrophen genutzt, die kulturelle Repräsentation bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen zurückzudrängen.

Notunterkünfte behindern den Wiederaufbau

Der Historiker Adrian Franco verfolgt einen weiteren Ansatz. Er ist ebenfalls am Darmstädter Forschungsprojekt beteiligt und untersucht am Beispiel von Notunterkünften die Dynamiken, die beim Aufeinandertreffen von Hilfsorganisationen, Behörden und der betroffenen Bevölkerung entstehen und wie sie sich auf den Wiederaufbau auswirken.

Dabei hat er die These aufgestellt, dass Notunterkünfte, so wirksam und nützlich sie zunächst sind, mittelfristig den Wiederaufbau eher behindern. "Die von ihrem Charakter her eigentlich provisorische Notunterkunft wird meistens länger genutzt als von den Hilfsorganisationen gewünscht."

Kunststoff-Iglus der Firma Bayer

Die Schwierigkeit des Wiederaufbaus führe dazu, dass Notunterbringungen häufig verstetigt würden. So waren Kunststoff-Iglus , die in den 1970er Jahren von der Firma Bayer als Notunterkünfte in Katastrophengebiete geliefert wurden, sogar noch nach zehn Jahren komplett oder teilweise dort vorhanden.

Mehr Hilfe zur Selbsthilfe

Im Laufe der Jahre hätten sich Stimmen gemehrt, die eine stärkere Hilfe zur Selbsthilfe fordern. Die Caritas habe 1970 nach einem Beben in Peru finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, mit denen sich Betroffene einfachste Unterkünfte mit Wellblech und Holz selbst errichten konnten.

TU-Projektleiter Hannig, der sich schon lange mit Naturkatastrophen beschäftigt, beobachtet auch, dass Betroffene beim Wiederaufbau zu wenig mit eingebunden werden. "Die Hilfe wird am Reißbrett geplant", sagt er. Dabei dienten die Opfer als Verfügungsmasse. Je stärker man sie aber am Prozess beteilige, desto erfolgreicher könne der Wiederaufbau sein. Das ist eine weitere Erkenntnis der Forscher.

Es kann schnell wieder passieren

Das jüngste Erdbeben in der Türkei war nicht der Anlass für das von der Gerda Henkel Stiftung finanzierte Projekt, hat ihm aber noch einmal eine besondere Aktualität verliehen. Es habe gezeigt, wie schnell es passieren kann, dass die Thematik wieder in aller Munde ist, sagt Hannig.

"Uns ist es wichtig, noch einmal die historische Tiefe solcher Debatten vor Augen zu führen." Wohin führten die Strategien in der Vergangenheit? Was hat man daraus gelernt? "Damit machen wir ein Angebot, wie man gegenwärtig mit diesen Herausforderungen umgehen kann."

Die Forscher hoffen, dass Entscheidungsträger dieses Angebot annehmen werden. Angelegt ist das im vergangenen Jahr gestartete Forschungsprojekt auf drei Jahre. Die Ergebnisse sollen in zwei Doktorarbeiten sowie in Aufsätzen, Artikeln und Interviews veröffentlicht werden.

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