Dokumentation über Selbsthilfeeinrichtung bei Marburg "Gemeinsam nüchtern": Licht und Schatten auf Hof Fleckenbühl
Kalter Entzug, keine Ärzte und Therapeuten - dafür enge Gemeinschaft und strenge Regeln. Für viele Suchtkranke ist Hof Fleckenbühl in Cölbe bei Marburg der letzte Ausweg. Das Konzept ist einzigartig, aber auch umstritten. Ein spielfilmlanger Dokumentarfilm hat die Arbeit nun ein ganzes Jahr lang begleitet.
"Wir sind alle süchtig, in dem Punkt sind wir alle gleich." Mit starken Worten beginnt der Film über den Hof Fleckenbühl in Cölbe, einem kleinen Ort bei Marburg. Hier, auf einem mittelhessischen Fachwerkhof zwischen Dörfern und Feldern, steigen Suchtkranke aus einem Leben voller Konsum, Exzess und kaputten Beziehungen aus. Und sie steigen ein in ein Leben des radikalen Verzichts, der Regelmäßigkeit und engen Gemeinschaft.
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Das Konzept der Fleckenbühler ist außergewöhnlich: Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiter gibt es hier keine. Der Hof ist keine offizielle Suchthilfeeinrichtung, sondern ein reines Selbsthilfeangebot. Aufnahme ist jederzeit möglich. Die Fleckenbühler setzen auf kalten Entzug, dann wird ein zweiwöchiges Bootcamp absolviert: der Einstieg in den streng geregelten Alltag in der Gemeinschaft und im Hofleben.
Menschen, die alles verloren haben
Der Hof Fleckenbühl zieht schon seit Jahren Journalisten und Fotografen aus ganz Deutschland an. Nun kommt erstmals eine spielfilmlange Dokumentation ins Kino. "Gemeinsam nüchtern" des aus Marburg stammenden Filmemachers Fabian Schmalenbach begleitet mehrere der rund 110 Bewohner ein ganzes Jahr lang.
Der Film zeigt Geschichten von Menschen, die hier leben und arbeiten. Es sind Menschen, die einmal alles hatten - Familie, Wohnung, Job - und die dann durch die Sucht alles verloren haben. Aber auch Menschen, die noch nie irgendetwas hatten, weil sie quasi in die Abhängigkeit hinein geboren wurden.
Einer davon ist Miguel, ein junger Mann mit einer schon fast lebenslangen Drogengeschichte: Kiffen, Speed, Heroin – Miguel hat fast alles durch, erzählt er im Film.
Endstation Fleckenbühl
Der Film zeigt, wie Miguel sein Leben auf dem Hof innerlich und äußerlich Monat für Monat mehr ordnet. "Nüchterne Strukturen aufbauen", nennt er das.
Der komplett durchgeregelte Alltag tut ihm gut: früh aufstehen, Betten machen, Arbeitsdienst. In den ersten sechs Monaten dürfen die Bewohner keine privaten Gegenstände nutzen, außerdem gilt eine vollständige Kontaktsperre ohne Handy und Telefon. Männer müssen sich jeden Tag rasieren.
"Es musste schnell und radikal sein", sagt Miguel. Denn wie alle hier hat auch er schon verschiedenste konventionelle Entzugsangebote durch. Geholfen hat langfristig bisher nichts. Endstation Fleckenbühl, heißt das hier.
Fliege an der Wand
Der Film hält einfach drauf. "Fly-on-the-wall"-Prinzip (Fliege an der Wand) heißt das im Doku-Jargon. Das Ziel: als Filmemacher so wenig wie möglich durch die Anwesenheit der Kamera zu beeinflussen, einfach dabei zu sein und nichts zu erklären, auch wenn das Gezeigte die Zuschauer stellenweise irritieren mag.
Der Regisseur Fabian Schmalenbach wollte mit seinem Film die Stärken des Hofs, aber auch die Schattenseiten zeigen, wie er sagt. "Es gibt Leute, die sagen: Fleckenbühl hat mein Leben gerettet. Und es gibt Leute die sagen: Das ist ein schrecklicher Ort, warum existiert dieser Hof überhaupt?"
Schattenseiten des Konzepts
Denn: Fleckenbühl ist nicht unumstritten. Einige Ansätze des Konzepts werden von Kritikern als "Gehirnwäsche" bezeichnet, ehemalige Bewohner berichten in Internetforen von "totalitären Prinzipien" und "sektenähnlichen Strukturen".
Meist geht es dabei um das hierarchische System, die strengen Regeln und den Umgang mit Geld. Bewohner müssen beispielsweise bei der Ankunft ihr Konto auflösen. Ihr Geld und alle Sozialbezüge, die sie erhalten, verwaltet ab dann der Hof.
Der Film zeigt deutlich, wie das auf Hof Fleckenbühl manchen Bewohnern zu schaffen macht. Ingrid zum Beispiel, die wegen ihrer jahrelangen Alkoholsucht hergekommen ist. Sie tut sich schwer mit den Regeln, der vielen Arbeit und dem Druck, den sie in der Gemeinschaft und Hierarchie empfindet, wie sie sagt. Aber am schlimmsten sei für sie "das Spiel".
Umstrittene Praxis: "Das Spiel"
Dabei handelt es sich um eine mehrmals wöchentlich stattfindende Gruppensitzung, die auf dem Synanon-Konzept beruht. Die Idee: Weil die Bewohnerinnen und Bewohner im Alltag zu aggressionsfreiem Umgang verpflichtet sind, sollen sie hier ihre aufgestauten Emotionen raus lassen und Konflikte ansprechen, die in der engen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft nun mal entstehen.
Ohne Hierarchiegrenzen dürfen sie einander hemmungslos kritisieren und die Meinung sagen – auch lautstark und mit mehreren gegen eine Person. Die Teilnahme ist Pflicht.
Der Film zeigt heftige Streitszenen, die schließlich in harten Beleidigungen gipfeln. Nachdem man sich gegenseitig angebrüllt hat, hängt irgendwann eine Art Lösung im Raum. Dann sitzen die Beteiligten mit verschränkten Armen da.
Psychische Gewalt sei das, findet Bewohnerin Ingrid, einander fertigmachen zum Zeitvertreib.
Schwer verdauliche Szenen
Auch für Regisseur Fabian Schmalenbach war diese Praxis das wohl Fragwürdigste, was das Film-Team während der zahlreichen Drehtage auf dem Hof erlebt hat. "Die Idee dahinter ist ja zu verhindern, dass die Leute sich auf dem Feld die Köpfe einschlagen", sagt er.
Er habe aber beobachtet: Manche Dinge konnten im Spiel durchaus geklärt werden, oft habe das "hemmungslose Rauslassen" die Konflikte seiner Ansicht nach aber eher befeuert. Ein Urteil soll der Film aber bewusst nicht vorgegeben.
Dass Schmalenbach solche schwer verdaulichen Szenen in der Dokumentation einfach stehen lässt, ist gleichzeitig besondere Qualität und Herausforderung des Films und einer der Gründe, die ihn so sehenswert machen. Es ist ein ehrlicher, ungeschönter Einblick in den Alltag auf Hof Fleckenbühl. Der Film wird sowohl Fans als auch Kritiker des Konzepts nachdenklich machen.
Sucht ist vielschichtig
Die Langzeitbetrachtung über ein Jahr zeigt, wie die Dinge sich entwickeln, ohne dabei den Anspruch zu erheben, vollständig zu sein. Eins wird deutlich: Vielschichtige Probleme brauchen vielschichtige Lösungen. Und Sucht ist vielschichtig.
Der Film feiert die Erfolge: "Clean-Geburtstage", Menschen, die innerlich gesünder werden, neue Hoffnung schöpfen. Aber er offenbart auch Rückschläge: Komplett-Abstürze, dauerhaft kaputte Beziehungen und innere Wunden, die vermutlich nicht so schnell wieder heilen.
Wer "Gemeinsam nüchtern" sieht, versteht längst nicht alles, aber vielleicht ein bisschen mehr darüber, was Sucht anrichten kann. Und darüber wie hart, individuell und für Außenstehende durchaus rätselhaft der Weg sein kann, um dauerhaft wieder aus ihr rauszukommen. Oder wie es in Fleckenbühl heißt: um das Leben wieder auf die Kette zu kriegen.
Sendung: hr4, 10.10.2023, 7:30 Uhr
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