"Fulda Gap" in Osthessen Kunststudent auf den Spuren eines nuklearen Schreckenszenarios
Im Kriegsfall würden die Soldaten des Warschauer Pakts über Fulda nach Frankfurt vorrücken. Auf diese Möglichkeit bereitete sich die Nato noch bis in die 80er Jahre vor. 40 Jahre später wandert ein Frankfurter Kunststudent diese miliärische Route ab, die zugleich der Weg seiner Kindheit ist.
Len Oswald steht an der hessisch-thüringischen Grenze. Vor ihm die Gedenkstätte "Point Alpha". Hinter ihm liegen 160 Kilometer Fußweg von Frankfurt über Fulda nach Rasdorf. Die Gemeinde im osthessischen Landkreis Fulda trägt seit 2015 die amtliche Zusatzbezeichnung Point-Alpha-Gemeinde, in Bezug auf die Gedenkstätte und den ehemaligen US-Beobachtungspunkt an der innerdeutschen Grenze.
Der Frankfurter Kunststudent hat auf seinem Fußmarsch viel fotografiert. Er hat mit Anwohnern gesprochen und vor allem versucht, zwei gegensätzliche Dinge zusammenzubringen: die idyllischen Ferien bei seiner Oma in Fulda und ein historisches Schreckenszenario.
Idyllische Kindheit und Kriegsszenarien
Len Oswald ist in Frankfurt geboren und aufgewachsen. In seiner Kindheit verbrachte er viel Zeit bei seiner Großmutter in Fulda. Mit der Region, die für ihn zur zweiten Heimat wurde, verbindet er viele positive Erinnerungen: "vom Drachensteigen, vom Wandern, vom Fahrradfahren, von Erinnerung an meine Oma und eben dieses Gefühl, hier ist so meine Familie auch zuhause."
Als Student setzte sich Oswald mit seiner Familiengeschichte auseinander. Dabei stieß er auf den Begriff "Fulda Gap". Er besuchte die Gedenkstätte "Point Alpha" und vertiefte sich weiter in deren Historie - der realen Gefahr für die Region im Kalten Krieg und den Verteidigungsplänen der Nato. "Da sieht man zum Beispiel einen Panzer, der wie alltäglich in einem Dorf steht oder liest die Städtenamen, zu denen man so eine schöne Beziehung und Erinnerungen hat - Hünfeld, Gelnhausen, Bad Soden - in einem militärischen Kontext in NATO-Papieren", beschreibt der Fotograf.
Abschreckung als Verteidigung
Besonders bewegte ihn die Stationierung und der kalkulierte Einsatz von Atomwaffen im Verteidigungsfall: Hätten die Truppen des Warschauer Pakts die Region Fulda angegriffen, hätte der Verteidigungsplan der Nato auch den Einsatz von Atomwaffen im eigenen Territorium vorgesehen. "Eine ganze Region als atomaren Schutzgürtel umzufunktionieren, das hätte auch das Leben meiner Familie vom einen auf den anderen Tag verändert", sagt Len Oswald.
Historiker von "Point Alpha" erläutert Kontext
Um den historischen Kontext besser zu verstehen, sprach der Fotograf mit dem Historiker Tim Keller. "Glaubhaft zu vermitteln, dass man im Falle eines Angriffs zu jeder Maßnahme bereit war, hat auch dazu geführt, dass der Kalte Krieg an der innerdeutschen Grenze eben nicht eskalierte", so die These des Mitarbeiters der Gedenkstätte "Point Alpha". "Es geht hier tatsächlich um die Abschreckung als Prinzip der Verteidigung. Da musste die NATO zeigen, dass sie bereit ist, ihr eigenes Territorium kaputt zu machen, so abstrus das heute klingen mag", erläutert Keller.
Einsatz von Atomwaffen als letztes Mittel
Der Einsatz von Atomwaffen sei "das letzte Mittel einer sich schrittweise eskalierenden Verteidigungsstrategie" gewesen", erläutert der Historiker und ergänzt: "Vor allem in den 1960er-Jahren war die Nato dem Wahrschauer Pakt jedoch in puncto Panzern und Soldaten auf dem europäischen Kontinent stark unterlegen gewesen. Deshalb galt der Einsatz von Atomwaffen im Falle eines eskalierenden Konfliktes von beiden Seiten als sehr wahrscheinlich."
Kalkulierter Tod von 3,5 Millionen Menschen
Unter dem Namen "Zebra Paket" stationierte die Nato Atomwaffen in der Region. Im Falle eines Angriffs hätten in kürzester Zeit 114 Ziele im Raum Alsfeld, Bad Hersfeld, Fulda beschossen werden können. Dieser Beschuss hätte die Infrastruktur zerstört und es wäre eine atomare Strahlenmauer errichtet worden, um die Truppen des Warschauer Pakts aufzuhalten – soweit die militärische Logik. Dieser Plan hätte jedoch auch den Tod von circa 3,5 Millionen Zivilisten bedeutet und eine ganze Region zerstört. Das zeigt eine simulierte Übung der Nato im Jahr 1955.
Anwohner als "Kanonenfutter"
Laut Keller wurde das amerikanische Militär einseits als Beschützer wahrgenommen. "Aber gleichzeitig zu sehen, dass es Sprengschächte gibt, hat mit Sicherheit bei einigen Menschen dazu geführt, dass man sich als eine Art Kanonenfutter fühlt und im Zweifelsfall geopfert wird", vermutet er.
Die Schächte, die sich durch Straßen und Brücken zogen, wären im Ernstfall neben herkömmlichen Sprengbomben auch mit sogenannten Atomminen befüllt worden. Das Ziel: eine schnellere Zerstörung der gesamten Infrastruktur. Dieses fatale Szenario wurde in den 1980er Jahren zum Politikum.
Friedensbewegung schaffte Tatsachen
"Die Friedensbewegung hat für ein verändertes Bewußsein in den Köpfen der Zivilbevölkerung gesorgt", konstatiert Tim Keller. Die Friedensbewegung veranstaltete in dieser Zeit Demonstrationen, verteilte Flyer und verübte Sabotageaktionen. 1983 schütteten unbekannte Aktivisten 200 Sprengschächte mit Beton zu und machten sie dadurch unbrauchbar.
Fotografie als Annäherung
Der junge Fotograf traf auf seiner Wanderung neben dem Historiker Tim Keller auch viele Menschen aus der Region, denen "Fulda Gap" kein Begriff war. Deshalb will der Kunststudent dieses kritische Kapitel der Fuldaer Zeitgeschichte zurück ins Bewusstsein holen: "So eine künstlerische Auseinandersetzung ist immer ein guter Weg, sich solchen Themen zu nähern, mit einer gewissen Leichtigkeit und ohne inhaltlich zu überfordern.“ Das Ergebnis seiner Wanderrreise ist ein Bildband, der den Titel "Fulda Gap" trägt.
Bildband als künstlerische Erinnerungsarbeit
Viele Fotos in Len Oswalds Fotoband, den er im Eigenverlag herausgebracht hat, geben auf den ersten Blick nichts über das historische Schreckenszenario preis. Oswalds Fotomotive sind nicht plakativ, sondern erzählen und transportieren Assoziationen: "Das letzte Bild des Fotobands zeigt verpackte Heuballen. Symbolisch erzählt es von zwei Seiten, die aufeinandertreffen - und zugleich von etwas Abgeschlossenem, Verpacktem", erläutert der Fotograf.
Wer von der Fulda Gap erzählt, erzählt von etwas, das glücklicherweise nie passiert ist und von etwas, das abgeschlossen sei, sagt der Fotograf. Die Erkenntnis seiner Wanderung durch die Erinnerungslandschaft: "Dass man sich der Verletzbarkeit von solchen Regionen bewusst wird und nicht aus den Augen verliert, dass Frieden ein Zustand ist, der sich ändern kann."