Atelierbesuch bei Annegret Soltau Wenn der weibliche Körper zum Schlachtfeld wird
Sie ist Teil der feministischen Avantgarde der 1970er-Jahre, ihre Kunst wird weltweit ausgestellt: Jetzt widmet das Städel Museum in Frankfurt der Darmstädter Collagekünstlerin Annegret Soltau eine Schau. Auch heute noch schockiert die 79-Jährige mit ihrer Kunst.
Ihre neueste Collage liegt unfertig auf dem Boden ihres Ateliers. Sie beugt sich über die überlebensgroße Fotografie ihres nackten Körpers, aus dem sie jegliche Erkennungsmerkmale bereits herausgerissen hat, und näht mit einer dicken, schwarzen Naht etliche Fotografien von Nasen und Augen in den Umriss hinein.
"Die Risse sollen nicht wie bei Schönheits-OPs wieder verdeckt werden", betont Annegret Soltau, während sie konzentriert mit Nadel und Faden arbeitet. Ihre Werke wichen schon immer von ästhetischen Konventionen ab. Das Zerrissene, das ihre Nadel wieder zusammennäht, sei symbolisch zu sehen. "Die Risse sollen sichtbar bleiben. Es soll schmerzlich aussehen," sagt sie. Als Frau sei sie den Schmerz gewohnt.
"Ich war immer auf der Suche"
1946 wird die Künstlerin im niedersächsischen Lüneburg geboren. Auf einem kleinen Bauernhof wächst sie bei ihrer Großmutter auf. Ihr Vater ist im zweiten Weltkrieg gefallen und ihre Mutter habe sie nie angenommen, sagt sie. In ihrer Jugend sei sie oft auf sich allein gestellt gewesen und von Job zu Job gesprungen. "Ich habe immer gesucht", erzählt sie. "Ich wusste, ich will Kunst machen. Ich wusste, dass es noch irgendetwas geben muss, was anders ist als, einfach so zu arbeiten und Geld zu verdienen."
Bevor sie in der Kunstakademie Hamburg aufgenommen wird, arbeitet sie bei einem Unfallchirurg für Hafen-Unfälle. "Da ist auch der Ansatz mit der Kunst", fällt der 79-Jährigen ein, als sie ihre Erinnerungen abruft. "Da wurde auch genäht. Die Verletzungen, das Blut, das Wiederheilmachen. Das fand ich interessant."
An der Kunstakademie lernt sie unter anderem bei dem österreichischen Maler Rudolf Hausner oder David Hockney, der als einer der einflussreichsten britischen Künstler des 20. Jahrhunderts gilt. Dort lernt sie auch ihren späteren Ehemann Baldur Greiner kennen. 1974 ziehen sie gemeinsam nach Darmstadt, Greiners Heimat. Zusammen sind sie bis heute.
Eingeschnürte Gesichter bis zur Schmerzgrenze
Heute nennt Soltau ein altes Forsthaus in der Nähe des Darmstädter Stadtwalds ihr Zuhause. Hier lebt und arbeitet sie. Es ist ruhig, idyllisch und ein starker Kontrast zu ihrer lauten, brutalen Kunst. Während sie Pause macht und bei Vogelgezwitscher in ihrem Garten einen Café genießt, blickt sie zurück auf 50 Jahre künstlerisches Schaffen.
Mit 21 Jahren ist sie in Hamburg Teil der 1968er-Protestbewegung und portraitiert dort die zukünftige Linksterroristin Ulrike Meinhof. In den frühen 1970er-Jahren fängt Soltau an, aktiv Teil der neuen Frauenbewegung zu werden und Kunst zu machen. Mit Performances gelingt ihr der Durchbruch .
In der sogenannten "Permanenten Demonstration" umschnürt sie mehrere Personen mit einem schwarzen Faden, bis ihre Gesichter unerkennbar sind. "Ich wollte, dass man diese Linie auf dem Körper spürt. Ich wollte, dass Kunst greifbar wird, und echt." Echter Schmerz inspiriere sie.
"Dadurch, dass ich als Kind von meiner Mutter nicht angenommen wurde, habe ich mich lange Zeit abgelehnt gefühlt und dachte ich bin nichts wert", erzählt die Künstlerin. "Dass mir stattdessen immer Erwartungen aufgedrückt worden sind, das hat in mir so einen Druck aufgebaut. So war es auch in der Frauenbewegung", sagt sie.
Diesen Druck habe sie aufgebrochen, sei über Grenzen gegangen. "Es wurden neue Techniken erfunden, es wurden Performances gemacht und es wurde das gezeigt, was sonst versteckt wurde, vor allem auch der weibliche Körper."
"Soltau-Naht" schafft es bis ins Klassenzimmer
Für ihre Technik ist Annegret Soltau mittlerweile bekannt. Die sogenannte Fotovernähung, die sie 1975 erfand, wird sogar im schulischen Kunstunterricht behandelt. "Jemand hat auch schonmal gesagt, es sei die ‚Soltau-Naht‘", sagt sie und lacht. Bei der Technik arbeitet sie hauptsächlich mit Selbstportraits, deren verschiedene Teile sie herausreißt und zusammennäht. "Mit mir selbst kann ich am weitesten gehen", erklärt sie.
Der weibliche Körper als Schlachtfeld
Ihre Collagen sind oft provokativ. In ihrer Serie "Bodyopenings" vernäht sie Fotos von menschlichen Körperöffnungen mit ihren Selbstportraits. Ihre Bilder der Serie "Generative" zeigen zusammengeflickte weibliche Körper. Es sind die nackten Körper ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihr eigener Körper. In Soltaus Werken wird die Frau ein politisches Statement.
"Es passieren Vergewaltigungen, bei Geburten kommt es zu Dammschnitten, es kommt in vielen Ländern noch zu weiblicher Genitalverstümmelung: Die Frau ist ja schon wie operiert, sie wird ja bald schon so geboren", sagt Soltau. In jeder Frau gäbe es Risse, betont sie. "Der weibliche Körper ist ein Schlachtfeld und ich möchte mich so zeigen wie ich bin, mit den Verletzungen, die stattgefunden haben."
hr verhängt Werke nach Protesten
Einfach hatte Annegret Soltau es als Künstlerin nicht: Ihre Werke waren immer wieder der öffentlichen Zensur ausgesetzt, auch im hessischen Rundfunk. 2011 erhält sie den Marielies-Hess-Kunstpreis. Begleitend wurden ihre Werke im Hessischen Rundfunk ausgestellt und, nach entsprechenden Forderungen von einem iranischen Verein, temporär verhängt.
"Das fand ich nicht schön und es war schmerzlich", erzählt sie. "Aber ich möchte trotzdem, dass man sieht, was in der Gesellschaft bei Frauen nicht richtig läuft." Nach all den Jahren lasse sie sich nicht mehr beeinflussen, ihre Werke würden mit der Zeit eher drastischer. "Ich habe ästhetischer angefangen und bin immer härter geworden und habe immer weniger Rücksicht genommen", antwortet sie auf die Frage, ob das Alter ihre Kunst verändert hätte.
Soltaus letztes Werk soll die Tochter posthum vollenden
Was Annegret Soltau hinterlässt, ist eine furchtlose Dekonstruktion des menschlichen Körpers, die neue Perspektiven auf künstlerische Selbstbestimmungen eröffnet, sagt Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums in Frankfurt. Diese Dekonstruktion werde sie bis an ihr Lebensende begleiten, verrät die Künstlerin. Ihr Körper und ihre Erfahrungen blieben nach wie vor Teil ihres eigenen Kunstobjektes.
In ihrer letzten Serie mit dem Namen "Personal Identity" will sie die Umrisse ihrer Selbstportraits mit verschiedenen Identifikationen wie alten Personalausweisen oder Reisepässen vernähen. Die Serie soll erst nach ihrem Tod ein Ende finden. "Mein letztes Dokument wird mein Sterbeschein sein und den soll meine Tochter in ein letztes Portrait von mir nähen, was von mir übrig sein wird."
"Mir kann niemand mehr was anhaben"
Körperbilder, die aus etlichen Teilen zusammengenäht sind, Motive der Schwangerschaft oder der Geburt, Eindrücke des Mutterseins, die Suche nach der eigenen Identität, die Folgen von gesellschaftlichem Druck: Soltaus Werk ist ein höchst persönliches Zeitzeugnis der feministischen Avantgarde und konfrontiert Betrachtende gleichzeitig mit dem heutigen Zeitgeist und dessen gesellschaftlichen Konventionen.
Sie sei nicht traurig, älter zu werden, so Soltau. Sie habe mit der Zeit mehr Verständnis für ihre Arbeit gewonnen. In ihrem Forsthaus in einem Wald in der Nähe von Darmstadt lebt sie nicht nur als Künstlerin. Hier ist sie auch Mutter, Großmutter, Ehefrau und Privatperson. "Ich bin ein lebenslustiger und positiver Mensch und gehe auf die Welt zu." Dass ihre Kunst weiterhin auch konfrontiert, wisse sie. "Ich bin alt genug, dass mir niemand mehr richtig was anhaben kann", sagt sie und lacht. "Ich habe mich gefunden. Ich kann nicht mehr zerstört werden."
Das Städel Museum in Frankfurt widmet ihr nun eine große Retrospektive.