Susanna Friedrich hat den unbefristeten Arbeitsvertrag bei den Arolsen Archives fast in der Tasche. Dann wird sie schwanger und informiert ihre Vorgesetzte - die Stelle ist futsch. Für die Betroffene ein Schock, doch sie ist nicht allein. Auch andere werfen der Direktion Mobbing und Sexismus vor.

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Interne Konflikte bei Arolsen Archives

hs
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"Die Stimmung ist von heute auf morgen komplett gekippt." So beschreibt Susanna Friedrich ihre Erfahrung als Mitarbeiterin der Arolsen Archives, dem weltweit größten Archiv zu NS-Opfern mit Sitz in Bad Arolsen (Waldeck-Frankenberg).

Die junge Frau war dort gut gestartet, entwickelte eigene Kampagnen in der PR-Abteilung und leitete das Projekt #stolenmemory, eine Wanderausstellung, die an ehemalige KZ-Häftlinge erinnert.

Susanna Friedrich ist ein Pseudonym, ihren richtigen Namen werden wir auf ihren eigenen Wunsch nicht nennen. Denn sie ist eine von denen, die unfreiwillig gehen musste. Begonnen habe sie ihren Job bei den Arolsen Archives mit einem Zeitvertrag. Dieser sollte entfristet und eine Stelle eigens für sie geschaffen werden, erzählt sie.

Keine Entfristung des Vertrages wegen Schwangerschaft?

Doch dazu kam es nicht. Denn Friedrich wurde schwanger - und kommunizierte das vor der Vertragsunterzeichnung an ihre direkte Vorgesetzte. Sie habe fair sein wollen, deshalb die Schwangerschaft ehrlich angesprochen und nicht erst den neuen Vertrag abgewartet, erinnert sich Friedrich heute. Im Anschluss habe sie den Wunsch geäußert, offene Gespräche mit den Vorgesetzten zu führen - diese seien ihr aber verwehrt worden, sagt sie.

Susanna Friedrich (Name von der Redaktion geändert)

Von Seiten der Direktion erreichte sie stattdessen die Nachricht, dass eine Entfristung ihres Vertrages unter diesen Umständen nicht zustande kommen könne. Mit dem Team habe sie offiziell nicht über ihre Situation sprechen dürfen. Friedrich fühlte sich isoliert. Sie habe nicht mehr schlafen können, so belastend sei die Situation für sie gewesen - dazu sei die Angst gekommen, mit Baby ohne Job dazustehen. Die Mischung habe in ihr ein Trauma ausgelöst. Drei Jahre ist das her.

Friedrichs Vorwürfe richten sich vor allem gegen die Direktorin Floriane Azoulay und ihren Stellvertreter Steffen Baumheier. Die beiden leiten seit 2016 und 2017 die Arolsen Archives. Das Leitungsteam hat maßgeblich die Öffnung und Modernisierung des Archivs angeschoben, loben viele Mitarbeitende. Doch gleichzeitig erheben 25 ehemalige und aktuell dort Tätige schwere Vorwürfe.

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Die Arolsen Archives

Die Arolsen Archives in Bad Arolsen sind ein internationales Zentrum zur Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft mit dem weltweit größten Dokumentenbestand zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Das Archiv umfasst über 30 Millionen Unterlagen zu Verfolgung, Zwangsarbeit und Emigration aus der Zeit des NS-Regimes und der unmittelbaren Nachkriegszeit, außerdem die Zentrale Namenkartei, das Kinder-Sucharchiv sowie eine Korrespondenzablage. Bis 2019 war die Organisation unter dem Namen Internationaler Suchdienst (IST) bekannt, der auf eine Initiative der Alliierten im Jahr 1943 zurückging.

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Anonyme Vorwürfe gegen Direktion der Arolsen Archives

In einem Bericht des ARD-Magazins Kontraste vom 24. Mai 2023 sprechen sie von mutmaßlichem Mobbing, Machtmissbrauch und Sexismus. Vertreten werden sie von dem Rechtsanwalt Daniel Vogel aus Holle in Niedersachsen, der die Vorwürfe anonym in einem Dossier zusammengetragen hat, das dem hr vorliegt.

Vogel war Ende 2022 zufällig in Kontakt mit einer Betroffenen gekommen und hatte sie gebeten, unter den Mitarbeitenden herumzufragen, ob auch andere etwas Ähnliches erlebt hätten.

Innerhalb von weniger als einer Woche hätten sich über 20 Personen bei ihm gemeldet, erzählte Vogel im Gespräch mit dem hr. Ihm sei von unangekündigten Personalgesprächen berichtet worden, von nicht begründeten Kritiken, Isolation und von massivem Druck. Betroffene hätten von dauerhaften Angstzuständen und Panikattacken erzählt.

Betroffene berichten von "Kultur der Angst"

Das Dossier beschreibt Willkür, Demütigungen und reihenweise Kündigungen von Angestellten. Nach Darstellungen von Mitarbeitenden herrscht in der Einrichtung eine "toxische Arbeitsatmosphäre" und eine "Kultur der Angst". Angefangen habe dies etwa ein bis zwei Jahre nach dem Amtsantritt der Französin Azoulay im Jahr 2016, besonders schlimm sei es seit zwei bis drei Jahren.

Anwalt Vogel schickte das Papier Anfang März an Kulturstaatsminsterin Claudia Roth (Grüne), deren Ministerium als Geldgeber des Archivs fungiert - und an den Internationalen Ausschuss (IA) als Leitungs- und Aufsichtsgremium.

Der Internationale Ausschuss beauftragte eine Rechtsanwaltskanzlei mit der Aufklärung der Vorwürfe. Bis zum 5. Juni konnten sich Mitarbeitende in diesem Rahmen äußern, so eine Sprecherin der Archives. Die Direktion der Arolsen Archives sei gehalten, nicht zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, bis die Untersuchung abgeschlossen sei, hieß es. Weitere Anfragen des hr nach den geschilderten Eindrücken aus den Interviews mit Daniel Vogel und Betroffenen wie Susanna Friedrich blieben unbeantwortet.

"Angst, dass alles den Bach runtergeht"

Auch im Gespräch mit dem hr wollten die Betroffenen anonym bleiben, ihre Namen liegen dem hr vor. Sie bestätigen Friedrichs Aussagen, und auch die des Dossiers. Ein Mitarbeiter berichtet, dass Personen, die Umstrukturierungen, Projekte oder Personalentscheidungen hinterfragt hätten, später nicht mehr da waren.

Dabei entstünde der Druck vor allem durch den stellvertretenden Direktor Baumheier. Während die Direktorin nicht mehr mit den Personen persönlich spreche, würde er "sehr unangenehm" werden. Auch brüste er sich damit, "der harte Hund" zu sein.

Anwalt Vogel berichtet, dass die Direktion vor Beschäftigten, mit denen er in Kontakt sei, bisher kein Einsehen zeige und eher Angst schüre. So hätten einige Furcht, daran schuld zu sein, dass "alles den Bach heruntergeht", wenn die Direktion kippe - die Arolsen Archives also umstrukturiert werden müssten.

Außenansicht eines Bürogebäudes mit Stellwänden in einer kleinen Grünanlage davor.

IA erinnert an Unschuldsvermutung

Bis auf weiteres werden Azoulay und Baumheier im Amt bleiben. Eine Sprecherin von Kulturstaatsministerin Roth bestätigte in einem Schreiben an den hr, der IA werde auf Grundlage etwaiger Zwischenberichte und des Abschlussberichts der Kanzlei "über mögliche arbeitsrechtliche Konsequenzen während und nach der Untersuchung beraten und diese gegebenenfalls beschließen".

Der IA selbst teilte dem hr mit, dass er sich bis zum Abschluss der Untersuchung auf die Führung der Arolsen Archives verlasse. "Angesichts der Unschuldsvermutung sowie der Bedeutung und der hohen Qualität der von den Arolsen Archives geleisteten Arbeit wird sich der Internationale Ausschuss bis dahin weiterhin auf seine Führung verlassen", heißt es schriftlich.

In den vergangenen Jahren hätten sich die Arolsen Archives zu einer modernen, effizienten und effektiven Einrichtung gewandelt. Man sei sich der Anschuldigungen bewusst, die gegen die Leitung des Archivs erhoben wurden und nehme diese ernst. Nach Abschluss der Untersuchung durch die unabhängige Anwaltskanzlei werde man über die nächsten Schritte entscheiden.

Bis Mitte Juni ist die Untersuchungskommission noch vor Ort. Dann berichtet sie an den IA.

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