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Mordprozess Ayleen: Ermittlerin über mutmaßlichen Täter

Der Angeklagte im Ayleen-Prozess in Gießen verdeckt sein Gesicht mit einem Aktenordner.

Im Gießener Mordprozess um den Tod der 14-jährigen Ayleen aus der Nähe von Freiburg steht am Freitag die Biografie des Angeklagten im Mittelpunkt. Es wird eine bedrückende Lebensgeschichte von Jan P. geschildert - mit einem für die spätere Tat entscheidenden Ereignis.

Jan P. hat sich für den fünften Prozesstag glatt rasiert. Der struppige Vollbart ist verschwunden. Dafür kommen nun Gesichtszüge hervor, die bisher kaum zu erkennen waren: schmale Lippen, ein Doppelkinn, Wangen voller Aknenarben.

Doch nicht nur sein Äußeres tritt diesmal vor dem Gießener Landgericht zum Vorschein. Einen Monat nach Prozessbeginn versteht man auch etwas mehr darüber, wer Jan P. ist. Es geht am Freitag um die Biografie des Mannes, der vor einem Jahr die 14-jährige Ayleen aus Gottenheim (Baden-Württemberg) nach Mittelhessen gebracht und ermordet haben soll.

"Wie ein Stück Vieh"

Der 30-Jährige aus Waldsolms (Lahn-Dill) hat inzwischen zugegeben, die Schülerin getötet zu haben. Reue darüber zeigt er bisher allerdings nicht. Überhaupt sind Emotionen bei ihm kaum erkennbar. P. wirkt vor Gericht und in Videomitschnitten aus der Ermittlung abgestumpft und fast unbeteiligt, in Zeugenaussagen wird er als empathielos und impulsgesteuert beschrieben.

Bildlkombination: Foto eines Sees inmitten einer Landschaft links und rechts ein unkenntlich gemachtes Portraitfoto der toten Ayleen.

Eine Polizeibeamtin meint am Freitagmorgen im Zuge der Tatrekonstruktion: P. habe Ayleens Leiche "wie ein Stück Vieh" behandelt. Auf die Frage, was er denke oder fühle, wenn er die Bank sehe, auf der er sie erwürgt haben soll, habe er gesagt: nichts.

Die große Frage, die im Saal hier wohl alle beschäftigt: Wie wird jemand so?

Bedrückende Lebensgeschichte

Die Ermittlerin der Polizei breitet dann vor Gericht die bisherige Lebensgeschichte des Angeklagten aus. Es ist die äußerst bedrückende Biografie eines Kindes, das früh umgeben ist von Missbrauch, Vernachlässigung und Armut. Und das dann selbst zum Täter wird.

P. wird am 17. Oktober 1992 geboren. Er ist das siebte von zehn Kindern. Die Familie gilt in Wetzlar als sozial benachteiligt und bildungsfern. Die Kinder haben unterschiedliche Väter. Auch der Vater von Jan P. verlässt die Familie früh.

Das Jugendamt hat mit der Familie alle Hände voll zu tun. Es ist von desolaten Zuständen die Rede: Die alleinerziehende Mutter trinkt zu viel, die Kinder sind oft sich selbst überlassen. Sie wirken ungepflegt, kommen unpassend angezogen, zu spät und ohne Frühstück zum Kindergarten oder zur Schule.

Sexueller Missbrauch zu Hause

P. fällt schon früh auf: Bereits mit acht Jahren beginnt er zu rauchen. In der Schule gilt er als Außenseiter. Er prügelt und streitet sich oft, die schulischen Leistungen sind schlecht. Immer wieder wird er beim Klauen erwischt, er zündet Mülltonnen an, schließlich sogar eine Lagerhalle.

Und dann sind da noch die Männer, die im Haus ein- und ausgehen. Mindestens eines der Kinder wird von Bekannten der Mutter sexuell missbraucht. P. behauptet heute: Auch er sei Opfer gewesen. Belegen lässt sich das nicht, so die Ermittlerin.

2005 werden schließlich mehrere Kinder vom Jugendamt aus der Familie genommen. Auch P. kommt zu Pflegeeltern.

Dort geht es ihm offenbar besser. Trotzdem gilt er weiterhin als schwieriger Fall. Der Pflegevater berichtet später der Polizei: Man habe ihn sehr eng führen müssen. Klare Regeln, feste Strukturen - teilweise sei der Pflegevater sogar mit in den Unterricht gegangen.

Parallelen zum Fall Ayleen: Übergriff auf Elfjährige

Im Mai 2007 findet dann das statt, was die Ermittler heute die "Ursprungstat" nennen. Auch sie ist im Prozess bereits mehrfach angedeutet worden, weil sie für P.s weiteren Lebenslauf weitreichende Konsequenzen hatte.

Die aussagende Ermittlerin meint: Es gebe zudem erschreckende Parallelen zum aktuellen Fall.

Der damals 14-jährige P. ist an diesem Tag mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Schwimmbad. Unterwegs entdeckt er ein elfjähriges Mädchen. Er verfolgt sie und spricht sie schließlich an. Er habe was verloren, behauptet er und fragt, ob sie ihm helfen könne zu suchen.

P. wird zum Täter

Plötzlich holt P. ein langes Gummiband aus der Tasche und beginnt, das Mädchen von hinten zu würgen. Sie wehrt sich und schreit, aber P. zerrt ihr Top und Rock runter. Nach 15 Sekunden reißt das Gummiband. P. versucht noch, ihr stattdessen ein Handtuch um den Hals zu legen. Doch dann kommt jemand vorbei und geht dazwischen.

Das Mädchen wird nach Hause gebracht, P. geht schwimmen. Später wird er zugeben: Er habe die Elfjährige hinter die Schwimmhalle ziehen und dort mit ihr Sex haben wollen.

Die Ermittlerin berichtet: P. habe später in Bezug auf den Vorfall gesagt, er habe mal selbst wissen wollen, wie das ist, Täter zu sein.

Gutachten: Niedriger IQ und "seelische Abartigkeit"

Dieser Vorfall ändert alles. Die Eltern des Mädchens erstatten Anzeige. P. muss die Pflegefamilie verlassen und wird in einer Einrichtung untergebracht. Gutachter stellen ein hohes Rückfallrisiko und Fluchtgefahr fest, sodass er zunächst in die JVA Rockenberg kommt.

Zunächst wird P. für schuldfähig gehalten. Doch dann bescheinigt ihm ein Gutachter eine "seelische Abartigkeit", wie es heißt. Auch sein IQ soll sehr niedrig sein, er wird auf 77 eingeschätzt. Statt ins Gefängnis, kommt er deshalb in die Psychiatrie.

Zehn Jahre in der Psychiatrie

Dort gilt er allerdings als unkooperativ, beratungsresistent und rechthaberisch, auch mit sexuell übergriffigem Verhalten fällt er immer wieder auf. Jedes Jahr wird er neu begutachtet und jedes Jahr wird neu entschieden: P. ist nicht austherapiert, es besteht weiterhin ein hohes Rückfallrisiko.

Zehn Jahre verbringt er in psychiatrischen Einrichtungen - seine komplette Jugend also. In dieser Zeit nimmt er auch mehrere Jahre Salvacyl ein, ein Mittel, das den Sexualtrieb dämpft.

Anwalt erreicht Entlassung aus Psychiatrie

Schließlich fordert ein Anwalt, der inzwischen auch noch andere Familienmitglieder betreut, ein externes Gutachten ein. Er meint: P. werde in der Psychiatrie nicht wirklich geholfen, man wolle dort nur Geld mit ihm machen.

Eine Gutachterin stellt fest: Die meisten seiner intellektuellen Defizite seien bildungsbedingt, der IQ liege bei 84, also höher als bisher angenommen.

Obwohl Staatsanwaltschaft und Klinik sich wehren und weiterhin keine optimale Prognose ausstellen, wird P. im Jahr 2017 entlassen. Er steht daraufhin unter polizeilicher Führungsaufsicht und wird weiterhin psychiatrisch betreut.

Doch schon bald nehmen die Probleme wieder zu. Es sind viele kleinere Delikte: Anzeigen wegen Körperverletzung, Kreditkartenbetrugs oder Fahren ohne Führerschein.

Neun Anzeigen wegen sexueller Belästigung

Aber P. wird auch immer wieder übergriffiges Verhalten vorgeworfen. Die Ermittler beschreiben: Meist seien es Frauen gewesen, die er auf Volksfesten oder am Bahnhof kennengelernt habe, oft jüngere Mädchen oder Frauen mit geistigen oder intellektuellen Einschränkungen.

Neun Anzeigen wegen sexueller Belästigung liegen aus den Jahren seit seiner Entlassung aus der Psychiatrie vor, die meisten Verfahren wurden allerdings eingestellt, zu einem Prozess kam es nie. Anfang 2022 läuft schließlich die polizeiliche Führungsaufsicht aus. Erreicht hat das ebenfalls P.s Anwalt.

In dieser Zeit beginnt P., über soziale Medien und Dating Apps massenhaft Nachrichten an Nutzerinnen mit öffentlichen Profilen zu verschicken, stets mit stark sexualisierten Inhalten. Die meisten reagieren nicht.

Auch die 14-Jährige Ayleen bekommt im April eine Nachricht. P. bittet sie um Nacktfotos. Sie antwortet ihm. Drei Monate später ist sie tot.

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