"Unvorstellbar, schrecklich und entsetzlich" Mord an vierjährigem Jungen: Lebenslange Haft für mutmaßliche Sektenführerin

Wegen Mordes an einem kleinen Jungen in Hanau ist eine mutmaßliche Sektenführerin zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Tat liegt mehr als 35 Jahre zurück.

In einem Gerichtssaal wird eine Frau in einem grauen Mantel von zwei Justizwachtmeisterinnen auf die Anklagebank geführt.
Sylvia D. im Gerichtssaal. Bild © picture-alliance/dpa (Archiv)
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Revisionsprozess - lebenslange Haft für mutmaßliche Sektenführerin

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Vor dem Landgericht Frankfurt ist am Mittwoch das Urteil im Mordprozess gegen eine heute 76 Jahre alte mutmaßliche Sektenführerin gefallen. Wegen Mordes muss die Frau lebenslang in Haft. Das Gericht sah es als erwiesen an, im Jahr 1988 einen vier Jahre alten Jungen in einen Sack gesteckt zu haben, in dem das Kind erstickte. Sie habe aus niedrigen Beweggründen gehandelt, sagte der Vorsitzende Richter.

Die Frau wurde deswegen bereits vor drei Jahren vom Landgericht Hanau zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch wegen Rechtsfehler ordnete der Bundesgerichtshof eine neue Verhandlung an.

Staatsanwaltschaft plädierte auf Mord

Auch im neuen Prozess hatte die Anklage in ihrem Plädoyer die Verurteilung zu lebenslanger Haft wegen Mordes gefordert. Das Motiv der Angeklagten stehe auf sittlich tiefster Stufe, sagte die Frankfurter Staatsanwältin: Die Frau sei "unglaublich wütend" auf den damals vierjährigen Jungen gewesen, der für sie "das Böse" symbolisiert und mit dem sie einen Machtkampf geführt habe.

Die Angeklagte soll zum Tatzeitpunkt vor mehr als 35 Jahren eine Sekte angeführt haben, der vierjährige Jan war der Sohn von Sektenmitgliedern. Laut Staatsanwaltschaft wurde er auf ihre Anweisung hin zum Mittagsschlaf in einen Sack gesteckt, der oben zugeschnürt wurde - so auch am 17. August 1988.

An diesem Tag soll der Junge besonders heftig geschrien und letztlich an einer Kohlenstoffdioxidvergiftung im Sack gestorben sein. Der Notarzt hatte damals notiert, der Junge sei an Erbrochenem erstickt.

Die Todesumstände hätten wohl bereits damals aufgeklärt werden können, doch es kam zu einem "Versagen der staatlichen Organe", wie der Richter sagte. Die Polizei ermittelte schlampig, die Staatsanwaltschaft ordnete keine Obduktion an. Bereits einen Tag nach Jans Tod wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt. Dass der Junge in einem Sack gestorben war, hatten die Täterin und ihre Anhänger wohlweislich niemandem gesagt.

"Unvorstellbar, schrecklich und entsetzlich"

Wie mit den Kindern in der Sekte umgegangen wurde, sei "unvorstellbar, schrecklich und entsetzlich", sagte der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung. Die heute 76-Jährige besitze keinerlei Empathiefähigkeit. Er las aus ihren Tagebüchern vor, in dem sie den kleinen Jungen unter anderem "machtsadistisches Schwein", "gemeiner Sadist" sowie "kalter und gemeiner Showaffe" genannt hatte. 

Da sich der Junge ihr widersetzte, seien die Strafen für ihn drakonisch gewesen. Nicht nur, dass der Junge geschlagen wurde. Wenn er nicht schnell genug aß, wurde ihm das Essen in den Mund gestopft. Stundenlang musste er auf dem Töpfchen sitzen.

Nässte er sich ein, wurde er kalt abgeduscht. Viele Nächte verbrachte er alleine auf einer Matratze in einem kleinen Bad. Bewegen konnte er sich nicht, er war bis zum Hals in einen Baumwollsack gesteckt worden.

Tagebuch gibt Hinweis auf Tatmotiv

Als Motiv für die Tat nannte der Richter die Angst der Frau vor der Einschulung des Jungen, dies hatte sie mehrfach in ihren Tagebüchern notiert. Denn in diesem Fall wäre sein schlechter körperlicher wie seelischer Zustand aufgefallen, und es wären Fragen gestellt worden.

"Sie haben jetzt von zehn Richtern attestiert bekommen, dass Ihr machtsadistisches Verhalten gegenüber Jan in Kombination mit Ihrer gefühlskalten Reaktion auf seinen Tod als Mord einzustufen ist", erklärte er der Angeklagten.

Verteidigung fordert Freispruch

Die Verteidigung der mutmaßlichen Sektenführerin hatte auf Freispruch plädiert. Sie sei das Opfer einer Kampagne und öffentlicher Hetze, sagte einer der beiden Anwälte der 76-Jährigen in seinem Plädoyer. Er warf den Ermittlern "blinden Eifer" vor.

Der Ablauf am Todestag des vierjährigen Jungen sei nicht eindeutig geklärt, es gebe widersprüchliche Angaben, hieß es von der Verteidigung. Auch die Todesursache sei nicht mehr bestimmbar. Es sei zudem unklar, ob der Junge an diesem Tag im August 1988 während seines Mittagsschlafs ganz oder nur bis zum Hals in dem Sack gesteckt habe.

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Der Staatsanwalt bezeichnete in seiner Entgegnung das Plädoyer als "einfallslos", zudem seien mehrere Angaben falsch. Die Angeklagte habe den Jungen gehasst, weil dieser sich gegen sie gewehrt habe.

Angeklagte beklagt "Rufmord"

Die Angeklagte hatte in ihrem fast zwei Stunden langen Schlusswort von einem "Rufmord" gesprochen. Es werde versucht, aus ihr "ein Monster" zu machen, dabei habe sie nichts getan. Der Stoff des Sacks, in dem der Junge gestorben war, sei "dünn und löchrig" gewesen. Er habe nichts mit dem Tod des Kindes zu tun, sondern sei "nur zu seinem Schutz" gewesen.

Die Ausführungen der Angeklagten erinnerten immer wieder an eine Predigt - wie bereits zu Beginn des Prozesses. Häufig war die Rede von "dem Alten", ihrem Namen für Gott, als dessen Sprachrohr sie sich sieht. Dieser teile ihr seine Botschaften über Träume mit.

Prozess neu aufgerollt

Jahrzehntelang waren die Behörden von einem Unfall ausgegangen, bis Aussagen von Sektenaussteigern im Jahr 2015 ein neues Licht auf den Fall warfen. Die sterblichen Überreste von Jan sollten aus dem Grab geholt und untersucht werden, doch sie waren nicht mehr da. Wo sie geblieben sind, ist unbekannt. "Es schüttelt mich", sagte der Richter dazu.

Frau von hinten zu sehen im Gerichtssaal, wird gerade fotografiert.
In einem ersten Prozess war Sylvia D. bereits verurteilt worden. Bild © picture-alliance/dpa (Archiv)

Im September 2020 hatte das Landgericht Hanau eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen gegen die Frau verhängt.

Doch der Bundesgerichtshof hob das Urteil im Zuge der Revision auf: Die Schuldfähigkeit der Angeklagten sei nicht ausreichend geprüft worden, hieß es zur Begründung. Außerdem hätten Angaben zu einem Tatvorsatz gefehlt. Der BGH verwies die Sache zur Neuverhandlung an das Landgericht Frankfurt.

Gutachten geht von Schuldfähigkeit aus

Für den neuen Prozess war ein weiteres psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben worden, das ebenso wie ein vorheriges von einer uneingeschränkten Schuldfähigkeit der Angeklagten ausging.

Gegen die Mutter des Jungen hatte es im vergangenen Jahr einen gesonderten Prozess gegeben: Das Landgericht Hanau sprach sie vom Vorwurf des Mordes frei.

Weitere Informationen

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 15.11.2023, 16.45 Uhr

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Quelle: hessenschau.de/Marcel Sommer, Caroline Wornath, Heike Borufka, dpa/lhe