Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) und sein Vize Kaweh Mansoori (SPD) in der Staatskanzlei

100 Tage und mehr als eine Meinung: Am Ende der Startphase ihrer Koalition halten CDU und SPD in Hessen zahlreiche Versprechen einer "christlich-sozialen Realpolitik" schon für erfüllt. Das sehen nicht alle so. Worüber wird gestritten, was lief, was lief nicht?

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Starkes Signal für Schwarz-Rot oder Quittung für schwache Zwischenbilanz?

hs 26.04.2024
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Als erste der dreistelligen Zahlen und mit ihren zwei Nullen ist die 100 eine runde Sache. Deshalb wohl hat es sich weltweit eingebürgert, nach 99 plus einem Tag nachzuschauen, ob es bei neuen Regierungen genauso rund läuft.

Die Zeit davor gilt nach einer aus den USA stammenden Tradition als Schonfrist für die Inhaber der Macht - es ist eine unverbindliche Verabredung unter Politikern und Journalisten.

Zumindest auf diesen beiden Berufsfeldern zog die 100-Tage-Bilanz besondere Aufmerksamkeit auf sich, die am Freitag in Wiesbaden zu ziehen war. Denn es ist die erste unionsgeführte CDU-SPD-Landesregierung in der Geschichte Hessens, die ihre Eingewöhnungszeit hinter sich hat.

Ministerpräsident Rhein: "Kickstart hingelegt"

"Aufbruch für Hessen" heißt die 42-seitige Zwischenbilanz aus der Staatskanzlei. Sie hat sogar eine Präambel. CDU-Ministerpräsident Boris Rhein fasste bei der Präsentation alles in dem Satz zusammen: "Wir haben einen Kickstart hingelegt."

Die ätzendste Kritik daran kam von den Grünen, die ungewöhnlichste aus den Reihen der mitregierenden SPD.

Was lief und was schiefging

Denn eine politische 100-Tage-Bilanz gibt es immer in der Mehrzahl. Wie sieht sich die Regierung selbst, was sagen ihre Gegner im Landtag? Was hat es mit dem Sofortprogramm auf sich, dessen Erfüllung Ministerinnen und Minister seit Tagen in Hessen verkünden? Und was ging schon schief?

1. Wohlfühl-Oase ohne Knalleffekt

Jahrzehntelang waren CDU und SPD geradezu verfeindet, zuletzt zumindest Gegner. Nun beschreibt der konservative Regierungschef Rhein die Stimmung während der Flitterwochen als "wohltuend" und ergänzte, es werde zwar diskutiert, aber: "Geknallt hat es nicht."

Sein Stellvertreter Kaweh Mansoori vom linken Flügel der SPD bestätigt, dass die Atmosphäre stimme. Tatsächlich ist in der kurzen gemeinsamen Zeit kein Ärger nach außen gedrungen.

Macht ist aber auch ein starker Kitt, und die Machtverhältnisse sind klar: Rhein und acht Unionsminister sitzen am Kabinettstisch mit drei Politikern des Juniorpartners SPD zusammen, der zuvor 25 Jahre lang nicht mehr regiert hatte.

Auch bei der Zwischenbilanz sah der Regierungschef das gemeinsame Ziel erfüllt: "Wir stehen für Anpacken statt Ankündigen und für eine neue Realpolitik statt irgendwelcher Randdebatten."

2. Mission vollendet?

"Wir haben wirklich geliefert", sagt Boris Rhein zur versprochenen Erfüllung des Sofortprogramms "11+1 für Hessen" mit Vorhaben aus jedem Ministerium und der Staatskanzlei. Der Regierungschef nannte als Beispiele das "Hessengeld" für die erste eigene Immobilie und die Innenstadtoffensive für mehr Sicherheit, bei der es inzwischen rund 20.000 Personenkontrollen und mehrere Razzien im Frankfurter Bahnhofsviertel gegeben habe.

SPD-Wirtschaftsminister Mansoori verwies auf Zuwachs an bezahlten Ausbildungsstellen für Erzieherinnen und Erzieher und dass die Meisterausbildung mit Hilfe von Landesgeldern künftig kostenlos sei.

3. Definiere "sofort"!

Initiativen für mehr Wohnungsbau, die Begrenzung der Flüchtlingszahlen, die Umsetzung der Empfehlungen des Hanau-Untersuchungsausschusses zum rassistischen Anschlag von Hanau: Das zählte Rhein zu den nächsten Aufgaben, die bevorstünden.

Allerdings liegen noch längst nicht in jedem Punkt des Sofortprogramms tatsächlich Ergebnisse auf dem Tisch. Beispiel "Bürokratiebefreiung im Ehrenamt": Über Entlastungen für Vereine bei den Gema-Gebühren hat das Land gerade erst zu verhandeln begonnen. Beispiel "Wolf ins Jagdrecht": Landwirtschaftsminister Ingmar Jung (CDU) hat gerade noch einmal eingeräumt, dass dies letztlich EU-weit geregelt werden muss.

Auch andere Erwartungen waren hoch - etwa beim "Hessengeld" für den ersten Kauf einer selbstgenutzten Immobilie. Die volle Summe von 10.000 Euro pro Käufer und 5.000 pro Kind gibt es aber nur, wenn auch so viel an Grunderwerbssteuer anfällt. Sie liegt in Hessen bei 6 Prozent.

Vor allem überraschte, dass die Förderung nur gestückelt über zehn Jahre hinweg fließt, während die Steuer auf einen Schlag fällig wird. Die Rhein meist gewogene FAZ befand gerade: Diese Lösung sei "nicht der Weisheit letzter Schluss".

4. Parteijugend sucht nach SPD-Handschrift

Das mit der "Realpolitik", wegen der Rhein das Bündnis mit den Grünen beendete, zog am Freitag eine Handvoll Demonstranten vor den Landtag. Es waren SPD-Nachwuchspolitiker um Juso-Landeschef Lukas Schneider, die dem Bündnis mit der CDU ohnehin kritisch gegenüberstehen.

Tenor des vor allem gegen die eigenen Leute in der Regierung gerichteten Protests: Die CDU dominiere mit Populismus wie dem Genderverbot die Koalition, die SPD verteidige ihre "grundlegenden Werte von Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität" nicht genug. Die Jusos nennen hier nicht zuletzt die beschlossene Abschiebeoffensive, die wegen Widerständen in der SPD eine Belastung der Koalition werden könnte.

5. Blick aus der Zweiradwerkstatt

Kritik der Opposition war weniger überraschend. Das Bilanz-Selbstlob der Landesregierung konterte Grünen-Fraktionschef Mathias Wagner genüsslich mit dem Hinweis auf einen Wikipedia-Eintrag zu einer fußbetätigten Anlassvorrichtung bei motorisierten Zweirädern: Der von Rhein erwähnte Kickstarter sei wegen Unzuverlässigkeit und Fehlzündungen genauso "von gestern", wie die Konzepte von Schwarz-Rot.

"Die Bilanz ist mau", befand Wagner. Es fehlten unter anderem Initiativen gegen Fachkräftemangel oder zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung in Grundschulen ab 2026. Die SPD sei in der Koalition kaum erkennbar, die CDU setze vor allem auf Show.

Ebenso findet die FDP, die Regierung sei die drängenden Probleme noch gar nicht angegangen. Wegen einer konservativen Ausrichtung geschieht laut den Fraktionschefs Wiebke Knell und Stefan Naas wenig für die politische Mitte. So herrsche bei der Sonntagsöffnung vollautomatisierter Läden Uneinigkeit.

"Auch nach 100 Tagen bleibt es von Seiten der CDU und SPD bei Ankündigungen", bilanzierte AfD-Fraktionschef Robert Lambrou. Rasch umgesetzt habe Schwarz-Rot lediglich Maßnahmen in eigener Sache: Zwei neue Ministerien und vier zusätzliche Staatssekretäre bescherten den Koalitionspartnern "weitere Versorgungsposten".

6. Pleiten, Pech und ein peinliches Zitat

Gravierende Fehlleistungen oder gar Affären: Da wurde in den ersten 100 Tagen nichts bekannt. Ein Koalitionskrach auch nicht. Aber bei unterschiedlichen Positionen traten schon einmal bezeichnende Widersprüche zu Tage - bereits im Koalitionsvertrag.

Da landete durch eine Redigier-Panne in einem Absatz zur Sonntagsöffnung für vollautomatisierte Supermärkte der konkrete CDU-Wunsch, man solle das "ermöglichen“. Und direkt danach der defensivere SPD-Ansatz, man wolle es "ergebnisoffen prüfen".

Mit Kritik an der Cannabis-Legalisierung der Ampel-Bundesregierung und damit auch an der SPD preschte der neue CDU-Justizminister Christian Heinz vor. Die Pressemitteilung dazu zog sein Haus rasch und kleinlaut zurück, als die SPD daran erinnerte: SPD-Kritik der Hessen-CDU, jahrzehntelange Routine, trifft neuerdings einen Partner.

Und dann verkündete die SPD-Abgeordnete Kerstin Geis bei einer Landtagsdebatte noch enormes Umwelt-Engagement: Schwarz-Rot werde "den erfolgreichen Ökoaktionsplan in allen Maßnahmen fortschreiben, ausweiten und künftig allen Landkreisen die Teilnahme anbieten". Das sei ein Auszug aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD "und zwar wortwörtlich", betonte sie. Wortwörtlich war es auch, allerdings aus dem alten Vertrag der schwarz-grünen Vorgängerkoalition.

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